Unter Kaiser und Krieg

Henriette 1910 – 1919

Roman Wintersonnenwende - Unter Kaiser und Krieg

Ein Jahrhundert vor Jette erblickte in der Hauptstadt Berlin ihre Ur- Großmutter Henriette das Licht der Welt. Sie wurde zuhause geboren, im Haus des Möbelfabrikanten Ernst Höhler und seiner Frau Charlotte. Es war ein großzügiges Haus am Olivaer Platz in der Nähe des Kuhdamms, einer wohlhabenden Wohngegend. Die Wohnung lag in der ersten Etage, der Beletage. Unten waren die Geschäftsräume des Möbelhandels. Die Räume hatten hohe Decken und ausgiebige Stuckverzierungen. Zur Straße lag der Salon mit einer großen Fensterfront, die Schlafräume waren nach hinten gelegen. Charlotte hatte vor dieser Entbindung eine Bauchhöhlen- Schwangerschaft erlitten und es war anfangs danach nicht klar, ob sie überhaupt Kinder bekommen könne. Sie selbst war in einer Großfamilie mit sechs Geschwistern aufgewachsen. Der Familie ging es finanziell ausreichend gut, trotzdem sorgte ihr Vater dafür, dass auch die Mädchen eine Ausbildung erhielten. Das war in der damaligen Zeit für Frauen nicht selbstverständlich. Charlotte wurde Schneiderin und sie nähte später viel für ihre Tochter und auch ihre Enkeltochter. Letzterer vermachte sie ihr Können. Charlotte wird als patente Frau beschrieben, doch bis dahin sollte es noch ein weiter Weg sein. 

Die erste Zeit nach ihrer Eheschließung mit Ernst war nicht leicht für sie gewesen. Sie litt unter der Stille im Haus, die im Gegensatz zu ihrer Kinder- und Jugendzeit stand, in der durch die sechs Geschwister viel Trubel herrschte. Ernst war tagsüber nicht da, das Haus war groß und leer. Charlotte fühlte sich allein und einsam. So oft es ging, floh sie, suchte Zerstreuung in den Geschäften und Cafés auf dem Kuhdamm. Aber sie sorgte dennoch für einen standesgemäßen Haushalt. Sie kannte ihre Pflichten als Ehe- und Hausfrau.

Henriette war ein kleines, zartes Mädchen, das kaum reif schien für diese Welt. Auch wollte sie nicht sofort atmen. Der Arzt, der bei den ersten Wehen gerufen worden war, musste ihr leicht auf den Po schlagen und sie sogar in einen eilig herbei geholten Eimer mit kaltem Wasser tauchen, bis sie endlich den ersten Atemzug tat und schrie. Erleichtert übergab der Arzt das Kind der Hebamme, die es wusch, vermaß und in warme Tücher hüllte. Sie wollte das Kind in die Arme der Mutter legen, doch Charlotte wandte sich ab. Sie war zu müde, die Wehen hatten sie zu sehr angestrengt und geschwächt. Also übergab die Hebamme das Mädchen dem Kindermädchen. Emilie Gurtler war schon im Laufe der Schwangerschaft eingestellt worden und wartete begierig auf das kleine Bündel. Verzückt betrachtete sie es und versprach ihm, leise flüsternd, es ewig zu behüten und zu lieben. Die kleine Henriette, die bis eben noch laut geschrieen hatten, wurde still und schien die angebotene Geborgenheit anzunehmen. 

So kam es, dass Henriette zunächst mit zwei Müttern aufwuchs. Charlotte war die gestreng auf die Erziehung, Sauberkeit und Kleidung achtende biologische Mutter, die wenig Herzliches und Mütterliches hatte. Und Emilie, die liebevolle, fürsorgliche, aber angestellte Mutter. 

Die biologische Mutter war selten bei dem Kind. Es war in der damaligen Zeit noch nicht üblich, viel Zeit mit seinem Kind zu verbringen. Füttern, Wickeln und Zubettbringen waren die typischen Aufgaben der Kindermädchen, die damit ganz automatisch zu Hauptbezugspersonen wurden. Auch fühlte sich Charlotte schnell überfordert, wenn das Kind schrie und war unsicher, ob sie alles richtig machen würde. Sie hatte keinerlei Erfahrung im Umgang mit Kindern. Als Nesthäkchen war sie verwöhnt und von allen vergöttert worden. Ihre Geschwister waren für ihre Belange zuständig, nicht umgekehrt. Einzig das Ausfahren des Kindes in dem schicken vierrädrigen Korbkinderwagen, der jetzt so modern war, entlang des Kuhdamms oder durch den Grunewald, bereitete ihr Freude. Wenn Bekannte in den Kinderwagen schauten und das hübsche kleine Mädchen bewunderten, wuchs in ihr so etwas wie mütterlicher Stolz. 

Liebe und Fürsorge erfuhr Henriette durch Emilie. Sie fütterte das Mädchen, wiegte es in den Schlaf und trug es umher, wenn es Bauchschmerzen hatte. Stundenlang saß sie an der Wiege, flüsterte zärtlich seinen Namen, wobei sie meist die zärtliche Koseform „Jetti“ benutzte. So war sie es auch, der das erste Lächelns des Mädchens galt. Und ihr wird auch das erste Wort Henriettes gegolten haben. 

Aber es gab natürlich noch einen Menschen im Leben von Henriette. Den Vater Ernst. Wie in der damaligen Zeit üblich, war er nicht bei der Geburt dabei gewesen. Er war vor den Schmerzensschreien seiner Frau in das Herrenzimmer geflohen. Ein durch die Holzvertäfelung dunkler Raum, in dessen Mitte eine Sitzgarnitur aus schweren Ledermöbeln und unter dem Fenster ein großer Holzschreibtisch stand. Unruhig war er auf und ab gegangen, bis es an der Tür klopfte. Als ihm schließlich das Mädchen gezeigt wurde, überflutete ihn ein großes Glücksgefühl. Vielleicht hätte er enttäuscht sein müssen, dass es kein männlicher Erbe für die Möbelfabrik war. Aber solche Gedanken kamen ihm beim Anblick der kleinen Tochter nicht. Er war fasziniert von ihrem kleinen Gesicht, den kleinen Fingerchen und dem leichten Flaum auf dem Kopf. Immer wieder ging er in das Kinderzimmer und betrachtete das kleine Mädchen, wenn es schlief. Er sah zu, wie Emilie es fütterte und wickelte. Oder er hörte zu, wie Emilie abends für Henriettes sang. Sie kannte die meisten Texte der Kinderlieder nicht, die Melodien konnte sie jedoch sicher summen, Und Ernst genoss das friedliche Bild des lauschenden Kindes. Ganz sacht erlag auch er der schönen Stimme von Emilie.

Für die 17- jährige Emilie war das Leben im Hause der Familie Höhler ein Glücksgriff. Sie war aus der vorpommerschen Stadt Anklam in die Hauptstadt gekommen, um sich eine Anstellung zu suchen. Der elterliche Hof hatte nicht genug abgeworfen um die elfköpfige Familie satt zu bekommen. Schon frühzeitig hatte sie sich als älteste Tochter des Hauses um die jüngeren Geschwister kümmern müssen und so lag es nahe, sich als Kindermädchen zu bewerben. Obwohl in der Großstadt alles fremd war, hatte sie sich schnell einleben können. Sie genoss das vornehme Stadthaus der Familie Höhler mit all seinen Annehmlichkeiten. Insbesondere das eigene Zimmer, das sie dort hatte. Auch wenn es nur eine kleine Kammer war. Aber es war ein eigenes Zimmer, das sie mit niemanden teilen musste. Sicherlich flößte Charlotte als Hausherrin ihr Respekt ein, sie hatte sogar ein bisschen Angst vor ihr, aber es war, so vermutete sie, ein ganz normaler Zustand für das Verhältnis einer Angestellten zur Hausherrin. Außerdem machte die kleine Henriette dieses Unbehagen vollkommen wett. Sie liebte dieses kleine zarte Wesen. Genoss sein Zutrauen und freute sich an seinem Gedeihen. 

Anfangs fand sie es verwunderlich, dass Ernst abends zu ihnen in das Kinderzimmer kam. Sie fühlte sich beobachtet und kontrolliert. Aber bald merkte sie, als seine Besuche immer regelmäßiger wurden, dass er die Stimmung in dem Kinderzimmer genoss. 

So wunderte sie sich auch eines Abends nicht mehr, als sich die Tür öffnete und Ernst das Zimmer betrat. Sie summte gerade ein Abendlied, doch statt sanft in den Schlaf zu gleiten, stand Henriette in ihrem Bettchen, hielt sich an den Gitterstäben fest und hörte mit großen wachen Augen zu, leicht den Körper nach dem Gesang wippend. 
Als sie ihren Vater sah, lächelte sie und versuchte in die Händchen zu klatschen. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und landete auf ihrem dick in Windeln gewickelten Po. Ernst trat an das Bett, hob seine Tochter heraus und setzte sich mit ihr auf einen Sessel.
„Singen Sie doch weiter. Sie haben eine wunderschöne Stimme“, forderte er Emilie auf. Diese errötete und fing mit leicht zittriger Stimme wieder an zu summen. Langsam wurde ihre Stimme wieder fester.
Als sie geendet hatte, sprach Ernst erneut „Sie haben wirklich eine schöne Stimme. Wurde bei Ihnen zu Hause viel gesungen?“
„Nein, eigentlich gar nicht. Zu Hause war immer so viel Arbeit, der Hof, wir neun Kinder, da gab es keine Momente, in denen man auf die Idee kam, zu singen. Daher kenne ich auch nur sehr wenige Lieder und schon gar nicht die Texte. Aber ich mag Musik.“
Ernst wandte sich an seine Tochter. „Und Du, genießt Du auch den Gesang? Hattest Du einen schönen Tag?“ Henriette strahlte ihren Vater an. „Jetzt geht der Tag aber zu Ende und Du gehörst in Dein kleines Bett“. Mit diesen Worten übergab Ernst das Kind Emilie, küsste es noch auf die Stirn und verließ das Zimmer. 

Am nächsten Abend betrat er wieder den Raum. „Ich habe etwas für Dich“ sagte er zu Henriette, die gerade auf dem Teppich saß und versuchte, ihrem Teddy einen Arm auszureißen. Er übergab ihr ein Päcken und sofort begann Henriette, das Einwickelpapier aufzureißen. „Eigentlich ist es eher ein Geschenk für Sie“ wandte er sich an Emilie. Es war ein Buch. „Die schönsten deutschen Kinderlieder“. Mit Noten und Texten. Dass sie mit Noten gar nichts anzufangen wusste, hatte er nicht bedacht, aber genau in diesem Moment wurde es ihm bewusst. Er räusperte sich. „Zusammen werden wir wohl auch die Melodien hinbekommen“. Er beugte sich zu Henriette hinab, gab ihr einen Kuss und ging.

Am kommenden Sonntag wollte Emilie gerade mit Henriette im Kinderwagen das Haus verlassen, um in der Nachmittagssonne einen Spaziergang zu machen, als Ernst zu ihnen trat. „Meine Gemahlin hat eine Einladung bei ihren Freundinnen zum Kaffee. Ich begleite sie auf dem Spaziergang“. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung und so gingen sie gemeinsam los. Emilie schob den Kinderwagen. Es war ein kalter, aber trockener und sonniger Januartag. Erst gingen sie schweigend, aber dann bat er Emilie von ihrer Familie zu erzählen. Und sie erzählte. Von dem kleinen Hof mit zwei Kühen, eine hatte im letzten Sommer gekalbt. Von den paar Schweinen und einer Handvoll Hühner. Täglich musste der Stall ausgemistet werden. Im Sommer wurde Gras mit einer Sense gemäht. Und wenn es regnete, bevor das Heu eingeholt war, war die ganze Arbeit vergebens. Im Winter wurde mit Holz geheizt, dafür mussten Bäume gefällt und aus dem Wald zum Hof geschafft werden. Schon die kleinsten Kinder mussten mithelfen. Die Mutter war geschwächt, zwölf Schwangerschaften, davon drei Fehlgeburten, hatten ihrem Körper zugesetzt. Der Vater immer voller Sorge. Es war eine traurige Schilderung über ein hartes Leben. 
„Dann gefällt es Ihnen bei uns?“ „Oh ja“ antwortete Emilie und sie gingen schweigend weiter. Trafen sie andere Familien, grüßte Ernst, indem er seinen Hut hob. Für Emilie war es ein unwirklicher Nachmittag.

Parallel dazu lief das geordnete und gesittete Leben des Ehepaares Höhler. Auf den wenigen, vor Bombenkrieg und über die Flucht geretteten Fotos ist die kleine Familienwelt zu betrachten. Auf einem Foto sitzt die kleine, etwa sieben Monate alte Henriette mit Windel an ein Kissen gelehnt, ein geknotetes Oberteil im römischen Stil tragend. Ein kleines, noch fast kahlköpfiges Mädchen mit großen, strahlenden Augen. Eine Aufnahme einer Fotografin in der Leipziger Straße. 
Ernst leitete die Möbelfabrik, Charlotte den Haushalt. Es wurden Einladungen gegeben, sie gingen gemeinsam ins Theater und in die Kirche. Ernst größte Freude war die Mitgliedschaft in der Rudergemeinschaft am Wannsee. Verbrachte er seine Zeit dort, genoss Charlotte den Nachmittagskaffee mit ihren Freundinnen. 

Es war keine Liebesheirat gewesen. Charlotte war eine hübsche, repräsentative Frau, Ernst eine gute Partie. Man begegnete sich mit Respekt und Würde. Liebe und Leidenschaft waren von untergeordneter Bedeutung. Hinzu kam, dass der Arzt Charlotte von einer zweiten Schwangerschaft abgeraten. 
Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass Ernst für die Reize von Emilie empfänglich war. Er war ein lebensfroher Mensch und er sehnte sich nach Zärtlichkeit und Liebe. Aber er war auch nicht leichtsinnig. Er war sich seiner Verantwortung im familiären, gesellschaftlichen und geschäftlichen Leben bewusst. Niemals hätte er seine Stellung leichtfertig aufs Spiel gesetzt.
Und so wäre vermutlich nichts passiert, hätte nicht ein Serbe namens Gavrilo Prinzip am 28. Juni 1914 den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau in Sarajevo ermordet und damit den ersten Weltkrieg auslöst. 

Die Familie Höhler erreichte die Nachricht über den Kriegsausbruch in Ahlbeck auf Usedom, wo sie ihren Sommerurlaub verbrachten. Man war mit der Bahn angereist. Eine lange und umständliche Reise. Dennoch hatte sich Charlotte völlig umsonst Sorgen gemacht, ob die Fahrt für die vierjährige Henriette zu anstrengend sei, insbesondere, da sie schnell quengelte, wenn sie müde war. Aber die Fahrt war viel zu aufregend, die Vorfreude zu groß, sodass Henriette fröhlich und neugierig blieb.  
Die Familie hatte sich in einem Hotel an der Strandpromenade eingerichtet. Noch heute sind die Jugendstilvillen dort Zeugen dieser Zeit. Direkt gegenüber lag die Seebrücke, auf der man meterweit in die Ostsee laufen konnte. Gleich am Abend der Ankunft wanderten sie über die Seebrücke und Henriette war begeistert von den Wellen und der Gischt, die unter ihr tobten. Überhaupt begeisterte sie alles. Alles war neu. Der kilometerlange feine Sandstrand, an dem Ernst mit ihr Burgen baute. Sie quietschte vor Begeisterung, wenn Ernst versuchte, sie im Sand einzubuddeln. Sie stand mit nackten Füsschen im Wasser und übersprang die Wellen, die an den Strand schlugen. Oder spielte Fangen mit ihnen, in dem sie ihnen nachlief und wieder vor ihnen weg. Sie sammelte mit überraschender Ausdauer mit Charlotte Muscheln und ließ sich von ihr im Strandkorb vorlesen, bis ihr vor Müdigkeit die Augen zufielen. 

Sie sah nicht die Schlagzeilen der Zeitungen. Dass Deutschland Österreich- Ungarn die bedingungslose Unterstützung zusagte. Dass Österreich- Ungarn am 28. Juli 1914 dem Königreich Serbien den Krieg erklärte. Bekam nicht mit, wie sich Deutschland in den Krieg katapultierte und sah nicht die dunklen Wolken, die tief am Horizont über Europa hingen. Die einzigen Wolken, die sie sah, waren die Wolken eines Gewitters, das am Vorabend der Abreise über Usedom tobte. Die drei waren auf ihrem Zimmer, das Fenster stand offen, als plötzlich immer stärkerer Wind aufkam, der die Gardinen wehen lies. Die Fensterläden wurden hin und her gerüttelt, es schepperte und klapperte. Sturzartig schlug der Regen gegen das eilig geschlossene Fenster. Der Himmel wurde von Blitzen über dem Meer erleuchtet und Donner krachten über ihnen herein. „Da draußen ertrinkt die Welt“, sagte Charlotte und keiner von den Erwachsenen konnte schon ahnen, wie recht sie mit dieser Aussage hatte. 

Ernst musste kämpfen. In der 5. Armee, die sich zunächst unter General- Oberst Moltke auf einer Linie von Metz Richtung Verdun vor grub. Nach anfänglichen Erfolgen glaubte man an einen kurzen und schnellen Eroberungssieg und in der Heimat jubelten die Menschen in ihrem Siegestaumel. Doch bereits im September 1914 blieb der deutsche Angriff im Schlamm der Schützengräben der Westfront stecken. Unter Anweisung der Generäle, für die das Ganze eine Art Strategiespiel im Warmen und Trockenen ihrer riesigen Schreibtische war, wurde um jeden Meter gekämpft. Ging es einen Schützengraben weiter vor, so musste kurzerhand wieder der Rückzug angetreten werden. Auf dieser nahezu erstarrten Frontlinie verloren Tausende von Soldaten auf beiden Seiten ihr Leben. 
Ernst sah den Tod. Er sah ihn, hörte ihn und roch ihn. Bei seinem ersten Heimaturlaub im Dezember 1914 war er ausgehungert nach Leben und Liebe. Die Mauer aus Vernunft zwischen ihm und Emilie brach sofort in sich zusammen. Er liebte sie. Vorsichtig und sanft. Er ließ ihr Haar durch seine Finger gleiten, fuhr mit den Fingerkuppen ihren Gesichtskonturen entlang und spürte ihre Lippen auf den seinen. Er liebkoste ihren Hals, streichelte ihre Brüste und bedeckte ihren Bauch mit Küssen. Die Innenseite ihrer Schenkel fuhr er zärtlich hoch. Als sie sich vereinten, vergaßen beide für kurze Zeit das Grauen um sie herum, den Krieg, den Tod, ihre Herkunft und ihre Zukunft. Für kurze Zeit stand die Welt für sie still. 

Charlotte bekam von alledem nichts mit. Vielleicht sah sie weg, vielleicht war sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Sie hatte während der Abwesenheit von Ernst dem alten Höhler bei der Leitung der Möbelfabrik geholfen. Ausgerechnet in diesem Jahr hatte der alte Höhler einen Schlaganfall erlitten und brauchte ihre Hilfe. Und so hatte sich Charlotte eingearbeitet. Eine Frau aus einfachem Hause, die nur schneidern gelernt hatte und die sich in den letzten Jahren nur mit Mode und Gesellschaft beschäftigt hatte.
Sie wuchs an den Aufgaben und damit wuchs ihr Stolz und ihr Selbstbewusstsein. Die Belastung brachte ihre Stärke hervor. 
Es machte es Spaß, mit dem alten Höhler über Zahlen und Schriften zu hocken. Sie hatte sich das Rauchen angewöhnt und abends ließen die Geschäftsleute den Tag mit einer Zigarette ausklingen. So ist es denkbar, dass sie von der kurzen und intensiven Liebe zwischen ihrem Gatten und dem Kindermädchen nichts wahrnahm. 

Als Ernst das nächste Mal nach Hause kam, war es April 1915. Diesmal kam er für immer. Ein Geschoss hatte seinen rechten Arm zerfetzt. Der Arm wurde noch in der Champagne in einem Lazarett amputiert. Niemals wieder würde sich Ernst an einem guten Champagner mehr erfreuen können. Der Krieg war damit für ihn vorbei. Welch Glück, denn so hatte er ihn im Gegensatz zu Tausend anderen überlebt. Aber Ernst nahm dieses Glück nicht sofort wahr. Die Wunde hatte sich entzündet. Fieber wütete in seinem Körper. Er war geschwächt und apathisch. Wieder zeigte Charlotte Stärke. Sie pflegte ihn, verband seine Wunde, wusch und fütterte ihn. In den Zeiten, in denen er schlief, ging sie weiter den Geschäften der Fabrik nach. Langsam erholte sich Ernst und nahm Gewahr, dass Emilie nicht mehr da war.
„Wo ist Emilie?“ fragte er seine Frau.
„Sie ist fortgegangen, um zu heiraten. Im letzten Monat brachte sie einen jungen Mann mit. Ich glaube, er ist Kommunist. Sie sagte, sie erwarte ein Kind von ihm und bat um ihre Entlassung“.

Ernst traf es wie einen Schlag, doch er zeigte es nicht. Für ihn blieben viele Fragen offen. Liebte Emilie diesen Mann? War das Kind, das sie erwartete, sein Kind? Was wusste Charlotte? Aber darüber konnte er mit seiner Frau natürlich nicht sprechen. Sie sprachen nie wieder über Emilie. Nur über ein neues Kindermädchen.
„Möchtest Du ein neues Kindermädchen einstellen?“ fragte Ernst seine Frau. „Nein, ich denke nicht. Für Henriette beginnt bald das Schulleben und bis dahin können wir sie erziehen. Ich denke, das Hausmädchen als Hilfe reicht.“

So war auch aus Henriettes Leben die liebevolle Emilie verschwunden. An ihre Stelle trat nun endlich die richtige Mutter. Charlotte begann mit fünf jähriger Verspätung ihre Mutterrolle anzunehmen. Zwar nicht so liebevoll und zärtlich, wie es Emilie getan hatte, sondern weiterhin streng und eher unnahbar. Aber sie kümmerte sich um Henriette, erzog sie zu einer kleinen ordentlichen Dame, die wusste, wie man sich bei Tisch und in der Gesellschaft zu benehmen hat. Die lustige und unbeschwerte Seite von Henriette blieb jedoch Ernst vorbehalten. Dieser hatte die Geschäfte der Möbelfabrik wieder übernommen. Sie forderten ihn in der angeschlagenen wirtschaftlichen Lage sehr. Seinen Ausgleich holte er sich bei seiner Tochter. Sie gaben sich gegenseitig Freude und Vergnügen und Ernst fand den Weg zurück ins Leben.

Auch aus dieser Zeit ist noch eine Fotografie erhalten. Es zeigt die Familie Ernst Höhler im Jahr 1916. Charlotte, inzwischen ein bisschen fülliger geworden, eine stattliche Frau im langen schwarten Rock und glänzender schwarzer Bluse mit weißem Spitzenkragen. Die dunklen Haare zu einem strengen Knoten aufgesteckt. Ernst groß und schlank, eine Tolle in den schwarzen Haaren mit einem Oberlippenbart. Er trägt einen dunklen Anzug mit breiter Krawatte und weißem Hemdkragen. Henriette in weißem Rock, blauem Jäckchen und weißer Bluse mit großem Kragen. Die strohblonden, kinnlangen Haare gelockt, mit großer weißer Schleife auf dem Scheitel. Ein hübsches kleines Mädchen mit artiger Ausstrahlung. Auf dem Bild ist vom ersten Weltkrieg nichts zu ahnen. Von Emilie Gurtler ebenfalls nicht. Ernst steht seitlich gedreht, vor ihm seine Tochter, die den Armstumpf völlig überdeckt. Ein Bild einer heilen Familie in einer heilen Welt. 

Henriette blieb auch als Schulkind ein schmales blasses Mädchen, das auf den erhaltenen Fotos wie durchsichtig erscheint. Auf einem der Fotos, auf dem sie den damals üblichen Matrosen- Anzug trug, schließlich wollte der Kaiser eine große Flotte, wirkt sie wie verloren. Ein weiteres Foto zeigt Henriette und Charlotte, als diese acht Jahre alt war. Henriette trägt ein weißes Spitzenkleid, wieder mit großer Schleife im leicht gelockten blonden Haar. Das Gesicht hatte sich gestreckt, blieb aber blass. Die Augen groß und dunkel. Ein zartes, zerbrechliches Kind. 

Sie wurde mit sieben Jahren eingeschult und ging in die Fürstin- Bismarck- Schule in der Sybelstraße. Die Schule war 1857 als höhere Mädchenschule gegründet worden. Auf diese Schule gingen viele jüdische Mädchen. Noch im hohen Alter erinnerte sich Henriette immer wieder daran, dass sie siebzehn Jüdinnen in der Klasse hatte. Dabei hatte sie eine ganz besondere Art, die Zahl siebzehn zu betonen. Was sie mir mit dieser immer wieder gemachten Äußerung klar machen wollte, blieb mir lange unklar. Adolf Hitler war noch entfernt und doch spielte Antisemitismus schon eine große Rolle. „Die reichen Juden“ lösten viel Neid bei den Deutschen aus. Waren die Juden keine Deutsche? Ich lernte letztens einen älteren Herren mit ausländischen Namen kennen. Auf meine Frage, aus welchem Land er stamme, antworte er mir, er sei Jude. Dabei hatte ich doch gar nicht nach seiner Religionszugehörigkeit gefragt. 

Im Internet rühmt sich die alte Schule von Henriette heute damit, dass sie viele jüdische Schülerinnen hatte. Heute ist man stolz darauf. 

Henriette war den Kontakt mit Gleichaltrigen nicht gewohnt und tat sich anfangs schwer. Mit der Zeit entwickelte sie jedoch Freundschaften. Besonders zur adligen Lilli, die in der Schule neben ihr saß. Diese Freundschaft wurde sehr eng. Dazu kam noch ein Mädchen namens Luise und so wurden sie ein Freundinnen- Kleeblatt. 

Morgens wurde Henriette vom Hausmädchen der Familie Höhler zur Schule gebracht, mittags nahm Ernst, der zum Mittagessen nach Hause ging, sie mit. Die Nachmittage verbrachte sie viel mit Charlotte, die immer mehr Interesse für ihre Tochter aufbrachte. Je älter Henriette wurde, um so mehr konnte sie mit ihr anfangen. Sie gingen spazieren, flanierten den Kuhdamm entlang oder gingen ein Stück Kuchen essen. Außerdem waren die Nachmittage gefüllt mit Klavierunterricht und Tanzstunde. Charlotte blieb weiter eine strenge, aber liebevollere Mutter, die auf die gute Bildung ihrer Tochter achtete. 

Die Schule wurde von dem älteren Oberstudiendirektor Dr. L. geführt. Auch die anderen Lehrer waren entweder älter oder invalide. Gesunde junge Männer gab es in Berlin nicht mehr. Die, die noch lebten waren an der Front. Dr. L. glaubte noch an den deutschen Sieg und so glich der Unterricht im Kommandoton eher dem Drill in einer Kaserne. Hauptinhalt waren Durchhalte- Parolen, die mittlerweile paradox angemutet haben mussten. Denn der erste Weltkrieg war längst in Berlin angekommen. Die Engländer hatten die Seeblockade verschärft, woraufhin die Deutschen den totalen U- Boot- Krieg erklärt hatten. Nachdem die Deutschen auch amerikanische Schiffe versenkt hatten, hatte Amerika im April 1917 den Deutschen den Krieg erklärt und es wurde immer enger für die Deutschen. Die Menschen hungerten und froren. Lebensmittel gab es nur auf Zustellung, vor den leeren Geschäften wurden die Schlangen immer länger. 

Eine ernste Schulzeit. Keine unbeschwerte Kinderzeit. Henriette sah sich in einer Welt voll gekrümmter Erwachsener mit ernsten Gesichtern. In mitten von Angst und Sorgen. Eine Kindheit ohne Lachen, eine Kindheit mit ständigem Hunger. Nie würde Henriette die Zuckerrüben- Zeit vergessen. 

Im Oktober 1918 bat Deutschland um Waffenstillstand. Dies war die Geburtsstunde der Dolchstoßlegende, denn schließlich hatte man nicht durch die Besiegbarkeit des deutschen Heeres verloren, sondern durch die revolutionären, sozialistischen und kommunistischen Parolen der Opposition in der Heimat. Diese „Vaterlandslosen“ fielen dem deutschen Soldaten, der sein Leben für das Vaterland einsetze, in den Rücken. 

Am 09. November 1918 wurde die Weimarer Republik ausgerufen und am 28.11.1918 dankte Kaiser Wilhelm der II ab, nachdem die USA dies zur Bedingung gemacht hatten, um den Waffenstillstand zu akzeptieren. 

1919 wurde in der Pariser Friedenskonferenz im Schloss von Versaille Deutschland und seinen Verbündeten die alleinige Verantwortung für den Ausbruch des ersten Weltkrieges zugeschrieben und mit Gebietsabtretungen sowie  Reparationszahlungen belegt. Die Reparationszahlungen hatten eine Höhe, die Deutschland nicht leisten konnte. Statt des ersehnten Friedens im Wohlstand kamen nun Armut und Hunger. Das deutsche Volk fühlte sich getreten und gedemütigt, dachte sehnsüchtig an die glorreichen Zeiten unter Kaiser Wilhelm zurück und machte die Demokratie für den Untergang verantwortlich. Mit Ausbrechen der Weltwirtschaftskrise, als sich die Lebensbedingungen der Menschen immer weiter verschlechterten, wurde in Zusammenhang mit der immer wieder belebten Dolchstoßlegende und dem zunehmenden Judenhass, der Weg für Hitler geebnet. 

Henriette erlebte das Kriegsende zu Hause mit ihren Eltern. Am Fenster stehend sahen sie auf die Straße hinunter, wo die Menschenmenge jubilierte. „Endlich ernten die Arbeiterklassen die Früchte ihrer langjährigen Arbeit. Jetzt wird alles besser!“, rief ein Mann auf einem Podium stehend in die Menge. „Wird jetzt wirklich alles besser?“ fragte Henriette ihren Vater. „Ich weiß es nicht“, antwortete Ernst. Aber es schien, als glaubte er nicht daran. 

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