Außer Kontrolle

Greta im Sommer 2010

Roman Wintersonnenwende - Außer Kontrolle

Anfang 2008 machte ich mich selbständig. Bis die Praxis so lief, wie ich es wollte, musste ich viel Zeit und Energie aufwenden. Lange, ermüdende Arbeitstage. Ich verließ als erste das Haus und kam erst spät abends nach Hause, wenn Sebastian Jette schon ins Bett gebracht hatte. Ich konnte meiner süßen kleinen Tochter nur noch im Schlaf über das Haar streicheln und atmete begierig ihren Duft nach warmen Schlaf ein. Denn eines war sicher: ich vermisste meine Tochter!

Am Wochenende musste ich mir oft Arbeit mit nach Hause nehmen, weil ich es sonst nicht geschafft hätte, all die Befunde und Briefe zu schreiben. Also verbrachten Sebastian und Jette die meiste Zeit des Wochenendes allein zusammen. Ohne mich. Gingen im Wald spielen, paddelten auf dem See. Fuhren gemeinsam in den Tierpark. Ich fühlte mich immer mehr ausgeschlossen.

Im Sommer 2010 begann ich, nach der Arbeit nicht mehr heimzufahren. 

Statt nach einem langen und für mich harten Arbeitstag nach Hause in den Schoß meiner Familie zu fahren, hatte ich mir angewöhnt, an den See zu fahren. Ich hatte Angst, von der einen (beruflichen) in die andere (familiäre) Überforderung zu stürzen. Ich fühlte mich ausgelaugt und der Aufgabe, sofort in die Rolle der liebenden, fürsorglichen und fröhlichen Mutter und Ehefrau zu schlüpfen, nicht gewachsen. Ich fand einfach nicht den Schalter. Statt mich zu Hause geborgen zu fühlen und aufzutanken, empfand ich meine Stellung zu Hause nur als Fortsetzung der Ansprüche, die an mich gestellt wurden. Gleichzeitig machte das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, mich so traurig, dass ich es nicht mehr aushalten konnte.

Schon mein ganzes Leben begleitet mich meine Liebe zum Wasser. Hallen- und Freibäder kann ich nicht ausstehen, aber jedes Naturgewässer zieht mich magisch an. Als Kinder radelten wir im Schwimmanzug mit dem Handtuch auf dem Gepäckträger barfuß zum Fluss, der sogar Sandstrand hat, um dort die Nachmittage zu verbringen. Die Sommerferien verbrachten meine Eltern mit mir an der Nordsee, meist auf einer der vor der Küste gelegenen Inseln. Auch wenn in Mitteldeutschland das Meer fern ist, sodass Meerweh zu meinem ständigen Begleiter wurde, gibt es zum Glück etliche Seen. Ein Handtuch oder eine Decke hatte ich nie mit. Es war die Spontanität, die es für ich so herrlich mache. Dazu die Freiheitsgefühle, die ich schon immer im Wasser verspürt hatte. Das herrlich kalte und gleichzeitig weiche Wasser umgibt den Körper wie Streicheleinheiten. Man verliert für kurze Zeit den Boden unter den Füßen und gewinnt Abstand zum Festland und damit zum Alltag.

Dummerweise hatte ich mir angewöhnt, dabei zu trinken. Ich begann, den Schmerz und die Unzufriedenheit am See wegzutrinken. Nur nichts mehr spüren. 

An einem dieser Abende erwischten mich vier freundliche Polizisten und nahmen mich in ihrem Wagen mit aufs Revier. Mein Auto blieb am See.

Ich hatte 1,8 Promille und war den Führerschein erst einmal los. Nachdem ich abgelehnt hatte, mich von den Bullen vom Revier nach Hause fahren zu lassen, trank ich in einer Kneipe noch ein Bier (hatte ich nicht eigentlich schon genug intus?) und bestellte mir ein Taxi.

Und so sah erst einmal meine Zukunft aus: Taxi fahren. Ich möchte nicht wissen, wie viel Geld ich den freundlichen gelben Autos insgesamt habe zukommen lassen. Aber in all der Zeit kam es nicht einmal vor, dass ich aus der Tür trat und sofort ein Taxi vorbeifuhr, dass ich hätte anhalten können. So etwas gibt es nur im Film.

Ich machte schließlich aus der Not eine Tugend und fing an zu laufen. Seitdem genieße ich die Einsamkeit der Langstreckenläuferin. Dazu laute und harte Musik auf die Ohren. Das Laufen wurde für mich zu meinen Ablassbriefen, um mich von meinen vorangegangenen Sünden zu befreien. Ich nahm 20 kg Gewicht ab. Denn leider hatte das viele Frust- Saufen seine Spuren hinterlassen und meinen Körper nicht schöner geformt. Eine richtige Bier- Wampe war da entstanden. Noch bedauerlicher war, dass mein Figur- Anspruch an mich, nicht in all dem Bier ersoffen war. Und auch die vielen Zigaretten zum Bier hatten mich nicht schöner gemacht. Schon immer habe ich es bedauert, dass es keine Zigaretten gibt, die schlank und schön machen, die Falten verschwinden lassen und so gesund sind wie Vitamine. Das sollte mal erforscht werden. Stattdessen wollen die den Mars erkunden. Wen interessiert der Mars? Ich komme noch nicht einmal in meiner eigenen Welt zurecht. 

Aber durch das Laufen war ich wieder recht nett anzusehen und gut trainiert. Allerdings werde ich in Kürze durch die laute Musik beim Laufen ein Hörgerät brauchen. 
Unser Nachbar beobachtete meine Lauferei pikiert und unverständlich. Er konnte die Motivation dafür gar nicht verstehen. Als Metzger hat er eine verblüffende Ähnlichkeit mit seinen schweinischen Opfer. Er schlachtete auch zu Hause. Das Quicken der Schweine beim Todesschuss war unerträglich. Jette war immer ganz fasziniert. Ich nicht. Besonders eklig war es, wenn er die Borsten der Schweine abflammte und der Geruch zu uns herüber zog. Naja, leben und leben lassen. 

Und so laufe ich bis heute. Nur im Winter fällt es mit schwer. Ich mag den Winter nicht. Ich kann Eis, Schnee und Schneematsch nicht ausstehen. Aber das Schlimmste ist die ewige Dunkelheit. Man verlässt am Morgen im Dunkeln das Haus und kommt im Dunkeln wieder. Ich kann jeden einzelnen Isländer verstehen, der wegen der ewigen Dunkelheit säuft wie ein Loch. Vermutlich stehen deshalb in isländischen Telefonbüchern nur die Vornamen der Menschen. Wegen der ständigen Sauferei kann sich bestimmt kein Mensch die schwierigen Nachnamen merken. 

Man kann den Sorgen nicht davon laufen, auch nicht, wenn man zwanzig Kilometer oder mehr läuft. Das mag sein. Aber man bekommt Abstand zu den Sorgen. Und dieser Abstand verschafft oft eine andere Blick- und Herangehensweise. Nicht umsonst ist einer der wichtigsten Grundsätze des Buddhismus „drop the thought“. Lass den Gedanken los. 
Wahrscheinlich hat Joschka Fischer Recht. Man läuft zu sich selbst und kann sich wieder finden. 
Und schließlich sind da ja noch die Endorphine, die glücklich machen.

Im Spätsommer besuchte ich meine Eltern. Natürlich mit der Bahn. Die Landschaft flog an mir vorbei, ich starrte trübsinnig aus dem Fenster und hatte das Gefühl, mein Leben flog an mir vorbei. Nichts war greifbar, nichts gehörte zu mir.

Meine Eltern holten mich vom Bahnhof ab. Überflüssig zu sagen, wie unangenehm und peinlich mir die ganze Situation vor ihnen war. Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Ich hatte die ganze Geschichte schon vorher am Telefon gebeichtet, aber so von Angesicht zu Angesicht war es doch noch viel unangenehmer. Erfreulicherweise machten sie nicht viel Aufhebens darum. Wir sprachen auch nicht viel über die Gründe, sie fragten nicht nach, machten sich aber bestimmt ihre Gedanken. Sie ließen mir Zeit, wofür ich ihnen sehr dankbar war. Oder sie hatten Angst vor meinen Antworten auf ihre Fragen und stellten sie daher lieber nicht. Stattdessen versuchten wir, gefährliches Terrain zu vermeiden, machten Touren durch norddeutsche (Hanse-) Städte mit einer netten Mischung aus Kunst und Shopping, tranken Kaffee in den Straßen- Cafés oder gingen abends ins Restaurant mit Blick auf den Fluss. 

Eines Nachmittags war ich alleine im Haus. Ich saß in meinem alten Kinderzimmer, ließ die Erinnerungen hochkommen und die Atmosphäre auf mich einwirken. Hier hatte ich meine Platten gehört, Bilder gemalt, Hausaufgaben gemacht und als Teenager meine Träume gehabt. Damals lag das Leben voller Möglichkeiten vor mir. Gerade hatte ich das Gefühl, dass kein Weg mehr vor mir lag, geschweige denn verschiedene. Ich streifte durch die anderen Zimmer, und versuchte die alten Stimmen der Kindheit wieder zu hören. 

Ich weiß nicht warum, aber irgendetwas trieb mich auf den Dachboden. Vorsichtig erklomm ich die enge und wacklige Holztreppe nach oben. Dort war es stickig und warm. Die Deckenlampe machte nur trübes Licht, welches den Raum nicht gänzlich ausleuchten konnte. Außerdem fiel noch Licht durch das kleine Dachfenster. In Regalen waren verschiedene Kartons gestapelt. Darin Sachen, die darauf warteten, irgendwann einmal wieder eine Rolle in dem Haus und in dem Leben der Personen zu spielen. Viele Dinge, die eigentlich nicht mehr gebraucht wurden, von denen sich meine Eltern aber doch noch nicht endgültig trennen konnten. Praktisches, Nützliches und Nostalgisches. Jeder Karton voller Erinnerungen. Mein ordentlicher Vater hatte die Kartons beschriftet. Ich fand einen Karton mit meinen alten Kinderbüchern und suchte ein paar schöne für Jette heraus. Auch mein alter Plattenspieler stand in einem der Regale. Ob der überhaupt noch funktionierte? Ein Karton beherbergte meine alte Steinsammlung und auch Strandspiele waren ordentlich aufbewahrt. 

Nach einiger Zeit hatte ich genug von der Flut der Eindrücke aus vergangenen Tagen und stieg die alte Treppe im Halbdunklen wieder hinab. Fast schon unten angelangt, stolperte ich über eine lose Stufe und das Brett fiel herunter. Nur dadurch sah ich das Versteck. In der Vertiefung der Stufe lag ein Ordner. Warum versteckt jemand einen Ordner unter einer Stufe? Verdattert setzte ich mich auf die Treppe und betrachtete den Ordner. Es waren handschriftliche Aufzeichnungen. Die Schrift erkannte ich sofort. Es war die Schrift meines Großvaters Alexander. Eine unverkennbare Schrift. Nicht die heutige lateinische Schreibtisch, kein Sütterlin, keine deutsche Kurrentschrift. Irgendeine Mischung aus allem mit leichter Rechts- Neigung, spitzen Winkel und absolut schnörkellos. 

Eine rechtslastige Schrift ordnen Graphologen den warmherzigen, ungezwungenen und kontaktfreudigen Menschen zu. Das passt, dachte ich, genauso hatte ich meinen Großvater bislang empfunden und eingeschätzt. Nur leserlich war diese Schrift überhaupt nicht. Beim ersten Überfliegen konnte ich rein gar nichts erkennen. Nur die Blätter, die er für seine Niederschrift genutzt hatte, erkannte ich sofort. Es waren alte, ausgemusterte Zeugnisse der Landwirtschaftlichen Berufsschule, die mein Vater ihm als Schmierpapier gegeben hatte. Ich schmunzelte. Auf diesen Blättern hatte auch ich gemalt, gekritzelt und kleine Geschichten geschrieben. 

Mit einigen Mühen konnte ich immerhin entziffern, was da auf meinen Knien lag. Es waren die Memoiren meines Großvaters. Warum versteckten meine Eltern die Aufzeichnungen meines Großvaters. Und vor wem?

Auch wenn ich vermutlich nicht der gewünschte Finder war, legte ich den Order nicht wieder in sein Versteck, sondern beschloss ihn heimlich mitzunehmen und zu lesen. Das würde kein leichtes Unterfangen werden, aber die Neugierde würde es möglich machen. 

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen