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Prolog
Deine Krankheit ist ein Feuer. Du bist mitten drin im Feuer. An manchen Tagen schaffst Du es nicht, den Eimer mit Wasser zum Löschen zu erreichen.
Jette im Herbst 2012
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Hänschen klein ging allein,
in die weite Welt hinein
Stock und Hut steh´n ihm gut,
er ist wohlgemut.Doch die Mutter weinet sehr,
hat ja nun kein Hänschen mehr,
da besinnt sich das Kind,
eilt nach Haus geschwind. -
Wendehammer
Greta 2012
Als meine Tochter 10 Jahre alt war, habe ich sie verlassen. Ich kehrte einen Tag später zurück, aber sie konnte es mir nie mehr verzeihen. Mit 11 Jahren hat sie mich verlassen. Beide Ereignisse habe ich nie verwunden. Ein Messer bohrte sich in meinen Rücken und verursacht seitdem tägliche Schmerzen. Meine Selbstverachtung wuchs von Tag zu Tag und löste mein inneres ICH auf.
Jeder einzelne von uns trägt in sich das Vermächtnis seiner Vorfahren. All ihre erlebten Stunden prägen auch unser Dasein auf dieser Welt, obwohl wir selbst nicht dabei waren. Jede Sekunde, die wir leben, fügen wir dem Bild neue Eindrücke hinzu. Dadurch bekommt es eine andere Färbung, aber das Bild bleibt das Gleiche.
Wir wollen im Hier und Jetzt leben, doch in jedem einzelnen Moment spüren wir unsere Vergangenheit wie einen schweren Rucksack und die Ungewissheit der Zukunft lauert uns auf. Und so zerrinnen die Momente unseres Lebens, wie die Körner in einer Sanduhr hinabrauschen.
Mit meinem 45. Geburtstag stellte ich erstmals fest, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mehr als die Hälfte meines Lebens vorbei war. Zeit für eine Bestandsaufnahme. Wo bin ich, wo will ich hin? In einer alten Sparkassen- Werbung der 80er Jahre sieht eine Bestandsaufnahme so aus: mein Haus, mein Auto, mein Boot… Bei mir sah es etwas anders aus: Ich hatte eine Tochter (wunderbar), eine Fernbeziehung (Prädikat nicht empfehlenswert), einen Kindsvater (mehr ist von ihm leider nicht übrig geblieben) und einen Ex- Mann (nicht identisch mit dem Kindsvater). Dazu ein Haus, das so klein war, dass es allenfalls für Puppen eine Villa wäre und wenige, die Betonung liegt auf wenige, Bekannte. Freunde – Fehlanzeige.
Im Sommer 2010 hatte ich mich in eine Sackgasse manövriert und der Wendehammer war verdammt eng.
Äußerlich betrachtet war alles perfekt. Mit Sebastian, dem Kindsvater, und unserer Tochter Jette hatte ich eine Familie, wir lebten in dem Puppenhaus und beruflich hatte ich mich gerade selbständig gemacht. Aber für mich stimmte nichts. Mein Beruf fraß mich auf. Ich schaffte es nicht, zu meiner Tochter eine innige und liebevolle Beziehung aufzubauen. Ich war nicht in der Lage, Freundschaften aufzubauen. Schlimmer noch, soziale Kontakte außerhalb meines Berufslebens waren für mich der pure Stress. Ich steckte in einer unglücklichen Beziehung fest. Zig mal schaute ich Sebastian an und fragte mich, was so verdammt falsch an ihm war. Er hatte mich nie im Stich gelassen, war immer für mich da, sah gut aus und war nebenbei auch ein sehr liebevoller Vater meiner Tochter. Wo verdammt war das Problem?
Sebastian und ich hatten uns einfach verloren. Es war keine Absicht. Es gab keinen Streit. Es passierte einfach so. So wie man nach jedem Waschmaschinengang arme, verwaiste Socken vorfindet. Man steckt sie als Paar in die Waschmaschine und beim Sortieren der gewaschenen Wäsche fehlt eine Socke. Immer nur eine. Sie verschwinden nie als Paar. So etwa lief das bei Sebastian und mir. Wir starteten als Paar in den Alltag und ohne es zu merken, verloren wir uns.
Während es ihm gelang, zu unserer Tochter Jette eine innige Beziehung aufzubauen, gelang mir dies nicht. Ich weiß nicht warum, aber ich konnte zu ihr keine Nähe herstellen. Ich war eine Mutter ohne mütterliche Gefühle.
So befand ich mich in meiner tiefsten Krise. Zumindest dachte ich das damals. Es sollte alles noch viel schlimmer kommen, aber das wußte ich damals noch nicht. Damals hatte ich mich verloren. Weder das Wann und Wo noch das Warum war mir klar. Ich befand ich mich im freien Fall und fiel immer weiter und tiefer. Wie in einem der ekligen Albträume, aus denen man irgendwann schweißgebadet aufwacht. Nur, dass ich nicht mehr aufwachte.
Obwohl ich mein Leben damals unerträglich fand, konnte ich doch nicht ausbrechen. Ich konnte nicht einmal darüber nachdenken, so sehr Angst machten mir solche Gedanken. Jegliche Überlegungen über ein freies und selbstbestimmtes Leben ließ ich einfach nicht zu. Schlimmer noch, ich hatte einfach keinerlei Idee, wie ein freies Leben aussehen könnte.
Während ich das schreibe, sitze ich an einem warmen Herbsttag bei geöffneten Türen am Schreibtisch. Noch wärmende Sonnenstrahlen fluten den Raum und von draußen strömen die Geräusche der Nachbarschaft herein. Irgendwer mäht den Rasen, irgendwo spielen Kinder und lachen. Eine große grüne Libelle, wunderschön glänzend, hat sich nach innen verirrt und zappelt am Fenster entlang. Ich will ihr zeigen, wo es wieder rausgeht. Flieg raus, du schöne Libelle, denke ich. Denn hier drinnen wirst du nur sterben. Draußen bleiben dir noch ein paar schöne Tage des Spätsommers. Aber sie lässt sich nicht beirren. Und irgendwo stirbt in diesem Moment ein Mensch.Ich wurde am Ostermontag 1967 geboren. Es war ein kaltes Osterfest, draußen lag Schnee und ein eisiger Wind wehte über die kleine Stadt hinweg. Für die kommende Nacht war eine Sturmflut vorhergesagt worden. Das alles schien mich hervorzulocken, und so setzten bei meiner Mutter Margarete, genannt Marga, die Wehen ein. Voller Aufregung fuhren meine Eltern sofort ins Krankenhaus. Dort angekommen wurden sie erst einmal auf die Treppe geschickt. „Die Stufen immer schön herunter springen. Ihr Mann soll sie gut festhalten. Immer wieder rauf und runter. Wir müssen etwas Bewegung in die Sache bringen.“ Das waren die Anordnungen des diensthabenden Gynäkologen. Damit begann der erste Teil der Entbindung. Der Part, an dem der werdende Vater Hermann noch teilnehmen durfte. In den Kreißsaal durfte er nicht mit hinein. Es war ein großer, grüngekachelter Raum, in dessen Mitte unter einer großen OP- Lampe ein gynäkologischer Untersuchungsstuhl stand. Die Lampe gab ein kaltes Licht ab. Zu den quälenden Wehen gesellten sich Angst und das Gefühl, völlig allein zu sein. Aber irgendwann schwemmten die Schmerzen der Wehen die Angst einfach weg.
Kaum hatte ich das Licht der Welt erblickt, riß mich Hebamme Agnes an sich, um mich zu waschen, zu vermessen und in ein weißes Leibchen zu hüllen. Erst dann bekam Marga mich kurz zu sehen. Aber nur kurz. Sofort danach verfrachtete man mich in einen gläsernen Säuglingswagen und brachte mich in das Neugeborenen- Zimmer. Dort konnte mich mein Vater hinter einer Glasscheibe aus der Ferne bewundern.
Meine Mutter und ich schliefen im Krankenhaus, wie damals üblich, selbstverständlich getrennt. Zur festgelegten Fütterungszeit brachte mich Hebamme Agnes in meinem Glas- Porsche zu meiner Mutter. Noch nicht an mich gewöhnt, war meine Mutter sehr aufgeregt, wenn ich schreiend ins Zimmer gefahren wurde.
Meine Mutter erinnerte sich in unserem Gespräch, als ich sie zu meiner Geburt befragte, dass sie damals sofort verkrampfte. Sie habe sich von der Verantwortung, mich alleine satt bekommen zu müssen, erdrückt gefühlt. Hebamme Agnes hielt nicht viel vom Stillen. Ihrer Meinung nach würden die Kinder nicht ausreichend satt werden und schrieen viel länger und häufiger als nach der Flasche. Und so würden die Stillkinder mehr Arbeit verursachen, vor allem die Nächte seien viel anstrengender. Genau genommen hasste sie das Stillen. Der Anblick der nackten, prallen Brüste war ihr peinlich. Entsprechend mürrisch legte sie mich an die Brust meiner Mutter, nachdem diese ihr Nachthemd aufgeknüpft hatte.
Auf den Schmerz, den mein Saugen an ihrer Brustwarze auslöste, war meine Mutter nicht vorbereitet. Ein ziehender Schmerz, der durch Mark und Bein ging. Marga verkrampfte noch mehr. Wahrscheinlich bekam ich nicht genug Milch und begann zu weinen. Agnes presste den Kopf wieder an die Brust, die nächste Schmerzwelle rollte an. Dann verlor Agnes die Geduld und beendete den Prozess. „Wir probieren es morgen wieder“.
Aber da auch beim Stillen das Angebot die Nachfrage regelt, wurde ich wohl tatsächlich nie satt. Also ließ sich meine verzweifelte und von Selbstvorwürfen zerstörte Mutter von Agnes überzeugen, dass die Flaschennahrung für mich das Beste sei.Während meine Mutter mir diese Erlebnisse vor wenigen Jahren schilderte, spürte ich, dass sie sich noch immer Versagen vorwarf. Ich konnte sie nicht trösten – soviel Nähe war nicht möglich. Vielleicht habe ich es mit meinen Abnabelungsprozessen und Distanzierungsversuchen so übertrieben, dass sich keine Nähe mehr heraufbeschwören ließ.
Seit meinem 29. Lebensjahr leide ich an der scheußlichen Krankheit namens Depression. Diese unerträgliche bedrückte Stimmung, die ständig vorhanden ist. Ein Eispanzer hatte sich über mich gelegt, gefror mein Herz und ist immer noch nicht getaut. Diese Unfähigkeit zur Freude, gepaart mit einer ewigen innere Unruhe, als würde ich ständig unmittelbar vor einer Operation am eigenen offenen Herzen stehen. Und sollte gerade einmal ein kurzer Moment der Glückseligkeit eintreten, schlägt die Depression gerade in diesem Moment unbarmherzig zu. Eisblumen statt Sonnenblumen. In der Öffentlichkeit muss ich eine Maske der Unbeschwertheit aufsetzen, was mir alle Kraft bis zur völligen Erschöpfung abverlangt. Deshalb mag ich Christo. So wie er den Reichstag verhüllte, muss auch ich mich ständig verhüllen.
Eine Frage, die mich immer wieder quält, dreht sich darum, ob die Depression wirklich erst mit 29 Jahren begonnen hat. Ich bin mir nicht sicher, ob nicht doch mein ganzes Leben von Angst und Einsamkeit geprägt ist. War ich jemals ein lustiges und frohes Kind? Beim Heraufbeschwören der Erinnerungen, die leider nicht ihre Kraft verlieren, tauchen immer wieder Bilder auf, die mich erschüttern.
Ich komme aus einem wohlbehüteten Elternhaus. Ich war so wohlbehütet, dass ich kaum Raum für meine eigene Entfaltung hatte. Dies wurde mir Jahre später deutlich, als meine Eltern bei uns zu Besuch waren. Jette war anderthalb Jahre alt war. Sie spielte völlig vertieft und zufrieden mit einem kleinen Ball und einem Esslöffel, bis meine ihr Mutter beides aus der Hand nahm und ihr nahe legte, Eierlaufen zu spielen. Jette hatte sofort jegliches Interesse an dem Ball und dem Löffel verloren, ihr schönes Spiel war zerstört und sie begann sich zu langweilen. Auch mir schrieb meine Mutter immer vor, was ich wie zu machen hatte. Wollte ich etwas anderes, war sie gekränkt und reagierte mit Liebesentzug. Bis ich nur noch machte, was sie wollte. Ich malte Bilder, so wie sie es wollte. Ich trug die Klamotten, die sie schön für mich fand, auch wenn ich mich in der Schule dafür schämte. Tat ich es nicht, war sie so gekränkt, dass ich unter ihrer daraus resultierenden Trauer litt. Als meine Tochter im Kindergartenalter war, malten wir gemeinsam ein großes Bild mit einem Baum im Herbst. Ich musste all meine Beherrschung aufbringen, ihr nicht zu verbieten, in den Stamm die Farben Lila und Hellblau mit einzuarbeiten. Heute hängt das Bild über meinem Bett. Als wunderschöne Erinnerung. Und als Mahnung.
Das Zuhause meiner Kindheit war immer still. Ich bin ein Einzelkind. Das sagt wahrscheinlich schon genug aus. Auch wenn wir alle drei zu Hause waren, war es immer still. Ich hörte in meinem Zimmer Märchen- Platten. „Gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß.“ Damals gab es noch Langspielplatten. Ich hatte einen kleinen Plattenspieler, den ich aber nie laut aufdrehte. Als wollte ich die Stille nicht zerstören. In Wirklichkeit lauschte ich mit einem Ohr immer nach der Stimmung meiner Mutter. Lauschte, ob sie weinte. Denn das tat sie oft. Am schlimmsten waren die Sonntage. Andere Familien machten Ausflüge. Wir waren zuhause, allein, jeder für sich. Meine Mutter in der Küche, dazu hörte sie sonntags immer klassische Musik. Natürlich auch leise. Mein Vater verbrachte sein Leben in seinem Arbeitszimmer. Ein typischer Workaholic. Er verließ sein Zimmer nur, wenn es hieß „Essen fertig“. Zu welcher Gelegenheit meine Eltern mich gezeugt haben, ist mir ein Rätsel. Wahrscheinlich auf seinem Schreibtisch, als sich meine Mutter zufällig in sein Zimmer verirrte, um zu gucken, ob die Gardinen gewaschen werden müssen. Letztens haben wir festgestellt, dass mein Vater keine Märchen kennt. Mich wundert das nicht. Ich kann mich nicht erinnern, dass er mir jemals vorgelesen hat. Als dieses Thema zwischen uns zur Sprache kam, witzelte ich, dass er mir bestimmt immer aus dem Handelsblatt vorgelesen habe. Anstatt mich zu beschweren, versuchte ich mit einem Witz, die Schuld von ihm zu nehmen.
Ich lauschte nicht nur auf die Stimmung meiner Mutter, sondern ich wartete auch auf Geräusche meines Vaters. Wartete darauf, dass er endlich aus seinem Arbeitszimmer herauskam, um meine Mutter zu trösten. Natürlich tat er es nicht. Also ging ich zu meiner Mutter und versuchte sie, aus der trüben Stimmung herauszuholen.
Szenen dieser Art gibt es in meinem Erinnerungsschatz in Hülle und Fülle.
Und doch ist meine Mutter fürsorglich und liebevoll. Viele kleine Szenen geistern mir im Kopf herum, in denen sie mir nah ist. Ich sehe uns in der Küche stehen, ich als kleines Mädchen, wir schälen Äpfel. Sie kann die Äpfel so schälen, dass die Schale an einem Stück bleibt. Anschließend werfen wir die Schale hinter uns und versuchen zu erkennen, ob sie in einer Buchstabenform auf dem Boden gelandet ist. Dieser Buchstabe wäre der Anfangsbuchstabe des zukünftigen Ehemannes.
Sie bastelte viel mit mir, brachte mir Stricken und Häkeln bei und spielte mit mir Reisebüro oder Post.
Noch vor kurzem hätte ich meine Kindheit sogar als geborgen und behütet bezeichnet. Jahrelang hielt ich meine Mutter für meine beste Freundin und es hat lange gedauert, die traurigen Erinnerungen in Einklang zu bringen mit der Wahrnehmung, dass meine Kindheit behütet war. Das war sie. Wohl nur zu behütet. Und sie war geprägt von der Last, die meine Eltern wiederum mit sich tragen. Aufgebürdet von ihrer eigenen Geschichte.
Meine Eltern sind nicht schuldig an meiner Situation. Jedenfalls nicht im Täter- Sinne.
Meine Eltern Margaret und Hermann feiern in Kürze ihren fünfzigsten Hochzeitstag. Mein Gott, wie schafft man das? Wohl, indem man nicht ausbricht. Statt dessen ordnete sich meine Mutter ihrem Mann unter. Sie war nach dem Abitur 1956 auf dem Lette- Haus in Berlin. Offiziell nannte sich das Ausbildung zur Hauswirtschaftsleiterin. Dort lernte sie, wie man einen Mann mit Anmut bekocht und versorgt. In der ARD- Serie „Die Bräuteschule“ habe ich im Vorspann Bilder von meiner Mutter im Lette Hause gesehen. Dort wurde auch die Säuglingspflege erlernte. Das, was sie im Lette- Haus erlernte, wandte sie bei mir an. Gefüttert wurde zu festen Zeiten. Alle vier Stunden. Ob ich Hunger hatte oder nicht. Schlief ich, wurde ich zum Füttern geweckt. Dafür zog Marga sich einen weißen, reinen Kittel an und gab mir die Flasche. Täglich wurde ich gewogen – die Waage steht noch heute in unserer Küche. Jeden Abend wurde ich gebadet. Nichts wurde dem mütterlichen Instinkt überlassen. Ein Säuglingsleben nach Plan.
Meine Tochter Jette, stillte ich, wenn sie sich meldete. Wenn Jette schrie, bemühten der Kindsvater und ich uns, herauszufinden, was sie quälte. Mein Vater sagte dazu nur „Lass sie schreien. Das stärkt ihre Lungen“. Alte Erziehungsideale aus dunklen deutschen Zeiten. 1934 verfasst von der Ärztin Johanna Haarer, einer leidenschaftlichen Nationalsozialistin. In ihrem Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ (die letzte Auflage erschien 1987 – unglaublich) werden die Erziehungsgrunsätze der Nazis und ihre Umsetzung beschrieben. Nicht die Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit des Kindes steht im Mittelpunkt der Erziehung, sondern das Heranziehen eines gehorsamen und widerstandslosen Menschen. Kinder, die für Autorität gefügig gemacht sind. Abhärtung statt Liebe. Hitlers Erziehungs- Regime im Jahr 2003 aus dem Mund meines Vaters. Hitlers Erziehungs- Regime als Grundlage für meine eigene Erziehung. Können Menschen, die man als Säugling schreien lässt, um sie abzuhärten und zu stärken, selber lieben?
Wer so auf das Leben vorbereitet wird, setzt sich nicht mit Ausbrechen auseinander. Das Leben als Pflichterfüllung. Auszubrechen aus einer unglücklichen Beziehung war, schon alleine wegen Jette, unvorstellbar. Und so biss ich die Zähne zusammen. -
Drum prüfe, wer sich ewig bindet
Greta 1997 – 1998
Wie schon erwähnt habe ich auch einen Ex- Mann. Meine gescheiterte Beziehung mit Sebastian ist also nicht die erste. Bereits ein Makel. Ein Zeichen meiner Unfähigkeit, Beziehungen einzugehen und zu halten.
Am 4.7.1997, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, heiratete ich meinen Kommilitonen Phillip. Das Fest selbst war wunderschön, obwohl ich bereits damals spürte, dass etwas nicht stimmte. Besonders während der kirchlichen Trauung. Ich weinte und hatte gar keine Chance, die Tränen zurückzuhalten.
Ich trug ein schlichtes, champagnerfarbenes Kleid, das mir eigentlich gut gefiel. Aber eben nur eigentlich, denn man hatte dieses schlichte Kleid mit allerlei Accessoires ausstaffiert, die weder zu diesem Kleid noch zu mir passten. Ich hatte es mit mir geschehen lassen. Hatte mich nicht gegen die Vorstellungen der anderen aufgelehnt.
Eigentlich hatte ich mein Brautkleid in einem kleinen, hübschen Geschäft in der Stadt kaufen wollen. Hätte ich eine Freundin gehabt, so hätte ich es gerne mit ihr zusammen gemacht. In meiner Vorstellung wurde uns dazu ein Glas Sekt gereicht und in aller Ruhe suchten wir so lange aus, bis ich schließlich MEIN Kleid gefunden hatte. Aber natürlich hatte ich keine Freundin. Und genauso natürlich hatte ich meine Mutter, die selbstverständlich dabei sein wollte. Die Vorstellung, mit meiner Mutter ein Kleid auszusuchen, hatte etwas Beängstigendes für mich. Aber noch viel beängstigender war die Vorstellung, meiner Mutter zu sagen, dass ich sie nicht dabei haben wollte. Um die Spannung zwischen ihr und mir zu reduzieren, nahmen wir auch meinen Vater und Phillip mit. Eigentlich heisst es ja, der Bräutigam solle das Kleid vor der Trauung nicht sehen – wir hielten es nicht so streng. Und es wird wohl auch nicht der Grund für das Scheitern unserer Ehe gewesen sein.
Mein Vater kannte als ehemaliger Landwirtschaftslehrer ein großes Geschäft für Brautmoden auf dem Lande. „Brautmode für Bauerntrampel“, dachte ich damals, als ich die vielen großen Ständer mit üppigen Kleidern für üppige Frauen mit üppigen Busen sah. Aber immerhin, ich fand ein schmal geschnittenes, Kleid und damit hätte alles gut werden können. Doch die Verkäuferin und meine Familie fanden, dass ich damit nicht genug nach einer Braut aussah. Statt eleganter Handschuhe (warum nur hatte ich dies nicht vorgeschlagen?), wurde mir ein Spitzenjäckchen übergestreift. Schließlich mussten ja in der Kirche die Schultern verhüllt werden. Dazu wurde mir noch ein Schleier auf den Kopf gesetzt. Am Hochzeitstag selbst kam dann noch ein verspielter Brautstrauß dazu. Kein Strauß, den ich mir erträumt hatte. Ein Strauß, der keine von meinen Lieblingsblumen enthielt. Aber ich wollte Phillip nicht kränken. So, wie ich niemanden kränken wollte. Und so ließ ich mich ausstaffieren.
Dafür fühlte ich mich am meinem großen Tag, der der schönste meines Lebens sein sollte, nicht wie ich selbst. Eine kitschige Barbie- Puppe trat vor den Altar, um von einer Abhängigkeit in die nächste zu treten. Phillip würde das fortsetzen, was meine Eltern bislang getan hatten. Hatte ich das damals schon gewusst? War diese Erkenntnis der Grund für meine Tränen in der Kirche?
Auch Phillips Hochzeitsanzug suchten wir alle vier gemeinsam aus. Als Phillip im Anzug vor dem Spiegel stand, war mein Vater begeistert. „Ganz der Herr Professor“. Phillip musste ihn erinnern: „Nicht ich befinde mich in der Laufbahn zur Habilitation, sondern Deine Tochter.“ Danke Philipp. Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Vater Stolz auf mich zeigte. Oder ich war dafür nicht empfänglich.
Die Ringe, die wir tauschten, gefielen mir damals nicht. Es waren Erbstücke. Alte gebrauchte Eheringe, die in meiner Familien zu diesem Zweck schon einmal genutzt worden waren. Keine neuen, gemeinsam ausgesuchten Ringe. Damals habe ich sie gehasst. Heute, wo ich die Geschichte meiner Familie kenne, denke ich anders über die Ringe. Heute würde ich meinen Ring vielleicht mit Stolz und Würde tragen, aber heute gibt es diese Ehe nicht mehr.
Mein Ring war vormals der Ehering meiner Urgroßmutter Charlotte. Den dazugehörigen ihres Mannes Ernst gab es nicht mehr. Er war während der Flucht im Krieg verloren gegangen. So kam es, dass Phillip den Ring meines damals schon verstorbenen Großvaters Alexander bekam. Von dem Mann, der das Leben so liebte und der in seiner Ehe so unglücklich gewesen war. Natürlich gab meine Großmutter Henriette den Ring ihres verstorbenen Gatten nicht gerne her. Aber meine Mutter hatte sie wohl lange genug bekniet.
Keinen Erfolg hatte sie bezüglich Henriettes Ring. Meine Großmutter wollte diesen bis zu ihrem eigenen Tod in Gedanken an ihren wundervollen Mann und ihre wunderbare Ehe selber tragen. Auch wenn jene Ehe eben nicht wunderbar war, beneidete ich sie, dass sie ihre Erinnerungen so verklären konnte.
So kam es, dass Philipp und ich abgelegte Ringe aus verschiedenen Ehen bekamen. Aber auch dies wird nicht der Grund für das Scheitern unserer eigenen Beziehung gewesen sein. Wäre es ein Ringpaar aus einer alten glücklichen Ehe gewesen, hätte ich es damals vielleicht leichter gehabt. Ein Ringpaar mit viel Tradition und schönen Geschichten aus einer glücklichen Ehe.
Die Ringe sahen sich noch nicht einmal ähnlich. Es war auf Anhieb zu sehen, dass sie nicht zusammen gehörten. Okay, sie waren beide aus Gold, aber das war auch schon alles an Gemeinsamkeiten. Phillips Ring war breit und kantig, meiner schmal und abgerundet.
So erlebte ich den Akt der Trauung als Darstellerin in einem Film. Das war nicht ich, die das Ja- Wort sprach. Nein, deutlicher: Es war eine Greta, die niemals eine Kontrolle über sich selbst erzielt hatte.
Die Ehe hielt kein ganzes Jahr. Noch vor unserem ersten Hochzeitstag waren wir getrennt.
Während dieses knappen Jahres wurde meine Depression immer schlimmer. Es eskalierte durch Arbeitsüberlastung und Kälte in unserer Beziehung. Mein Beruf als Ärztin und gleichzeitige Forschung an der Uni überforderten mich zusehends. Niemals werde ich das Gespräch mit meinem Professor vergessen, in dem ich ihn bat, mich von der Forschungsarbeit freizustellen. Aber auch dieser Versuch der Notbremse, alles mit Arbeitsüberlastung zu erklären und eine Besserung nach einer Arbeitsreduktion zu erwarten, fruchtete nicht. Zwei Wochen später war ich komplett arbeitsunfähig. Eine junge Frau, frisch verheiratet und gerade in eine Traumwohnung gezogen, lag nur noch vor Angst apathisch und gelähmt im Bett und verließ es Tag und Nacht nicht mehr. Und Phillip? Der frisch gebackene Ehemann versuchte so zu tun, als sei alles in Ordnung und ergriff die Flucht, wo es nur ging. An dem ersten schlimmen Wochenende nach meiner Krank- Schreibung fuhr er mit gemeinsamen Freunden zum Wandern in die Schweiz. Ich quälte mich allein zuhause im Bett. Auch das werde ich nie vergessen und ich konnte es Phillip nie verzeihen. Es war der eigentliche Akt unserer Trennung, die kurz danach vollzogen wurde.
Nahtlos ging ich die Beziehung mit Sebastian ein. Wir kannten uns aus dem Krankenhaus, er war da, ich wollte nicht allein sein und so wurden wir ein Paar. Philipp zog aus, Sebastian zog ein. Ein chancenloser Akt.
Nahtlos ging ich die Beziehung mit Sebastian eingegangen. Wir kannten uns aus dem Krankenhaus, er war da, ich wollte nicht allein sein und so wurden wir ein Paar. Philipp zog aus, Sebastian zog ein. Ein chancenloser Akt.
Weihnachten 2012 würde meine Mutter, nachdem meine Eltern Lebenspartner Nummer Drei kennenlernten, sagen: „Wir sammeln Schwiegersöhne“. Natürlich kränkte mich dieser Satz. Aber heute kann ich es anders betrachten. Sie hatten eben auch ihre Schwierigkeiten, mein unperfektes Leben in der perfekten Umgebung einer Kleinstadt vor sich und den perfekten Bekannten zu verteidigen.
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Ent- Bindung
Greta 2003
Jette wurde im März 2003 geboren. Morgens war ich noch in der Stadt und wunderte mich, dass mir der kleinste Weg so schwer fiel. Wieder zuhause, setzten gegen zwölf Uhr die Wehen ein. Es dauerte ein bisschen, bis ich begriff, dass es nun endlich los ging. Jette trat ihre Reise in unsere Welt an. Ich machte mir den Kamin an und wehte vor mich hin. Wie durch ein Wunder kam Sebastian früher nach Hause, er hatte wohl das richtige Gefühl. Wir duschten noch und fuhren gegen 19 Uhr in die Klinik los. Dort angekommen, hatten Jette und ich schon gute Arbeit geleistet und alles sah gut aus. Im Kreissaal war ich froh, dass Sebastian bei mir war und mir die Angst nahm. Nach dem anfänglich gutem Verlauf, stellte sich plötzlich der totale Stillstand ein. Nach 16 Stunden und mit der Zeit immer schmerzhafteren Wehen, ging es dann plötzlich schnell. Es wurde ein Kaiserschnitt erforderlich. Die Peridualanästhesie war so gut, dass ich alles miterleben konnte. Trotz all der Ängste, war ich froh, es bei Bewusstsein miterleben zu können. Gleich würde ich meine Tochter sehen. Sah ich nicht. Das Kind wurde, kaum dass man es aus meinem Bauch geborgen hatte, dem Kinderarzt übergeben. Der schrie nur noch „Wir fahren los. In die Kinderklinik auf Intensiv.“ Diese Sätze habe ich erst im Nachhinein begriffen. Die Gynäkologen nähten meinen Bauch wieder zu und ich wurde auf mein Zimmer gebracht. Auch in diesem Moment habe ich noch nicht alles begriffen. Sebastian hielt meine Hand und küsste mich auf die Stirn. Dann fuhr er. Und erst dann begriff ich, dass ich auf der Wochenstation allein lag.
Es ist mittlerweile wissenschaftlich erwiesen, dass der erste Kontakt zwischen Mutter und Kind unmittelbar nach der Geburt immens wichtig ist. Das Kind wird der Mutter auf den Bauch oder an die Brust gelegt und damit der Grundstein für die gesamte folgende Beziehung zwischen Mutter und Kind gesetzt. Bei mir lag kein Kind. Auf mir lag kein Kind. An meiner Brust lag kein Kind. Ich hatte meine Tochter noch nicht einmal gesehen. Ich lag in einem weißen Krankenhauszimmer, allein, verkabelt mit allerlei Schläuchen, müde und erschöpft.
Am folgenden Vormittag kam mich mein Chef besuchen. Er brachte einen großen Blumenstrauß und machte nette Worte. Dass kein Kind da war, bemerkte er gar nicht. Es war eine völlig surrealistische Situation.
Am Nachmittag besuchte Sebastian unsere Tochter Jette auf der Intensivstation. Er brachte gute Nachrichten mit, es ginge ihr gut.Zwei Tage nach der Entbindung wurde Jette in die Frauenklinik, in der ich lag, überführt. Die Augenblicke davor waren schrecklich. Wir saßen im Säuglingszimmer, zusammen mit anderen sich dort aufhaltenden Eltern, schreienden und schlafenden Säuglingen und Krankenschwestern. Ich war aufgeregt und ängstlich. Vor meiner eigenen Tochter. Ich überlegte, ob ich sie als solche erkennen und erspüren würde, oder ob man mir auch einen wildfremden Säugling bringen könnte. Man legte mir das Kind in die Arme, dass ich neun Monate unter meinem Herzen getragen hatte und das mir doch fremd war.
Jette war auf der Intensivstation mit der Flasche gefüttert worden, bis sie sich an mich und meine Brust gewöhnte, war es ein hartes Stück Arbeit.
Jette und ich hatten eine gemeinsame Zeit verloren, der wir lange hinterher rennen mussten. Mittlerweile weiß ich, dass wir sie nie richtig aufgeholt haben.
Jette verdankt ihren Namen nicht nur ihrer Ur- Großmutter als Abwandlung von deren Namens Henriette, sondern auch dem Buch „Wir, die das Leben lieben“ von Karen Aabye. Eigentlich ein Kitsch- Buch, welches im Dänemark des 19. Jahrhunderts spielt. Für mich ein Buch mit Herzenswärme und mit einer wundervollen Message: Das Leben ist liebenswert. Nicht, dass ich diese Botschaft besonders gut umgesetzt bekomme, aber sie hat mich so beeindruckt, dass sie mich dazu veranlasst hat, meine Tochter Jette zu nennen.
Das Buch endet mit einer Rede der Protagonistin für ihre Tochter Jette an deren Hochzeitstag:
„Liebe kleine Jette! Würde Dein Vater noch leben, dann würdest Du heute von ihm all die gutgemeinten Worte hören, die Eltern an solch einem Tag nun einmal auf dem Herzen haben. Aber das Schicksal hat es anders gewollt.
Ich erinnere mich noch daran, Jette, als Du zu mir kamst und mich fragtest, ob es eine Sünde sei, wenn man froh ist. Du warst fünfzehn Jahre alt (…).
Ich weiß auch noch, dass ich lachte und dass Du mich etwas vorwurfsvoll ansahst. Aber dann antwortete ich Dir in vollem Ernst. Die Freude am Leben ist das Schönste, was die Menschen mitbekommen haben. Die Freude an den kleinen Dingen. Die Freude über einen Menschen, der sich einem anvertrauen will, die Freude über die schwankenden Zweige einer Birke, die Freude über das gute Gedeihen des Viehs und der Äcker und die Freude, einen Menschen wiederzusehen, den man vermisst hat.
Es kann übermütig, eingebildet klingen, Jette, aber jedes mal, wenn mich das Leben fast umgeworfen hat, hat mir eine innere Stimme zugeflüstert, dass eine Freude auf mich wartet.
Kleine Jette, Du bist eigentlich gar nicht mehr klein, sondern sehr groß und selbstständig. Für mich bleibst du doch immer die kleine Jette. Von heute an wirst Du nun an Joachims Seite leben.
Keinem wird die Sorge erspart, aber denkt daran, immer, und ich sage Euch – immer liegt etwas Freudiges vor Euch und wartet auf Euch.
Das Leben ist eine kostbare Gabe. Uns hat das Leben nie erschrecken können. Wir haben uns ihm entgegengestreckt: lebenshungrig und -jubelnd. Und das haben wir getan, weil wir uns dem Leben verschworen haben. Wir fühlten keine Angst, weil wir einmal geduckt wurden. Wir haben ein Recht auf die Sonne, auf den Regen, auf die Fruchtbarkeit im Wald und auf dem Feld, auf den Sturm im Oktober, auf den Schnee, die Kälte, die Wärme- denn wir haben alles mit Schmerzen bezahlt. (…)
Und solltet Ihr Stürme und harte Zeiten erleben, dann denk daran, Jettekind, dass Du einer Familie angehörst, die das Leben liebt.“
Eigentlich verrückt, so stock- depressiv wie ich bin, liebe ich diese Sätze.
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In aller Liebe
Greta 2003 – 2005
Es waren seltsame Zeiten, damals nach Jettes Geburt. Eine reine Achterbahn der Gefühle.
Ich war in der Elternzeit, die ich ursprünglich viel kürzer begehen wollte. Aber die Vorstellung, mein Kind einer fremden Frau anzuvertrauen, war mir so unheimlich, dass ich die Zeit verlängerte.
Es war ein ungewöhnlich heißer Sommer, die Sonne schien von April bis Ende September ohne Unterlass. Damals war das noch ein freudiges Ereignis nach vielen schlechten Sommern; das Wort Klimawandel war noch nicht in die Köpfe der Menschen vorgedrungen.
Jette und ich verbrachten fast die ganze Zeit mehr oder minder nackt unter dem schattenspendenden Kirschbaum im Garten auf einer Decke. Ich war so unendlich stolz auf meine kleine süße Tochter, machte wie besessen Fotos, die ich zu hübschen Fotobüchern arrangierte. Wir saßen zusammen im Planschbecken, schmusten in der Dämmerung und entdeckten so wahnsinnig interessante Dinge wie Ameisen im Gras oder Bienen an den Blüten.
Während sie schlief, strich ich unsere Küche neu, recherchierte über die Möglichkeit eines Sabbaticals, das ich mit meiner kleinen Familie unter einfachsten Bedingungen auf einer Alm in den Alpen verbringen wollte, nähte oder strickte Kinderkleider oder suchte im Netz nach angesagten Möbeln und anderen Dingen, die man für ein Leben mit Kleinkind braucht.
Ich fühlte mich seit langem einmal wieder frei, obwohl ich natürlich an ihrer Seite zu Hause blieb. Aber der soziale Rückzug war noch nie mein Problem.
Ich habe wirklich wunderschöne Erinnerungen an diese Zeit, und während ich das jetzt schreibe – übrigens wieder ein äußerst heißer Sommer, diesmal dem Klimawandel geschuldet – laufen mir die Tränen über die Wangen und ich schmecke das Salz auf den Lippen. Immer wieder brauche ich kurze Pausen. Mein Herz so schwer!
Trotz der Leichtigkeit des Sommers litt ich unter einer ständigen Anspannung. Wie hieß es schon einmal so schön: „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“, ein Roman von Milan Kundera. Zu schade, dass dieser wunderbare Titel schon vergeben ist. Darüber ärgerte er sich selbst übrigens in einem seiner späteren Romane.
Jette war eine schlechte Schläferin und vor allem in den ersten Monaten ein echtes Schreikind, was sogar Sebastian belastete. Im Gegensatz zu ihm lastete ich mir die Probleme unserer Tochter an und machte mir Vorwürfe. Risse im Mutterglück, die drohten, mein kleines glückliches Haus im Inneren zu sprengen.
Natürlich gab es auch andere Familien mit Schreikindern, die in der Öffentlichkeit stolz erzählten, auf welche Ideen sie gekommen seien, um das Kind zu beruhigen. Nächtliche, kilometerlange Autofahrten, immer wieder im Kreis um den Block, Staubsaugen oder den Fön anschalten. Mit solchen Geschichten hatte man sogar die Lacher auf seiner Seite. Aber so tickte ich eben nicht.
Ich habe eine Szene im Kopf, von der ich nicht einmal weiß, ob sie sich wirklich so ereignet hat. Jette steht in ihrem kleinen Kinderbett und schreit. Dazu stampft sie mit ihren kleinen Beinchen auf. Tränen laufen über ihr Gesicht. Sie schreit nach mir, die unweit von ihr auf dem Boden sitzt und nicht reagiert. Ich halte die Arme über den Kopf verschränkt und versuche meine Ohren vor den Schreien zu verschließen.
Eine Szene, die für mich bezeichnend ist. Ich liebe meine Tochter, fühle mich aber unfähig, Nähe zu ihr aufzubauen. Genauso, wie ich unfähig bin, Bindungen aufrecht halten. Ich habe weder Vertrauen zu mir noch zu anderen.
Wie kann ich selbst Ur- Vertrauen weitergeben, wenn ich selbst keines habe. Wann gibt ein kleines Mädchen auf, verstummt und gräbt den Kummer in sich ein?
Vor der müden und quengeligen Jette hatte ich Angst. Sie überforderte mich. Sie forderte all meine Aufmerksamkeit, bis ich das Gefühl hatte, sie nahm mir meine eigene Identität.
Auch für meine Eltern wurde ich immer unwichtiger. Sie erkundigten sich nicht mehr nach mir – es ging nur noch um Jette.
Hinzu kam, dass ich mich immer mehr von Sebastian distanzierte. Schon allein aus Eifersucht und Neid, dass ihm der Umgang mit Jette so spielerisch gelang. Er brachte sie zum Lachen, eine Fähigkeit, die ich mir völlig absprach. Und dass ein Säugling eine (sexuelle) Beziehung zwischen Partner belastet, ist wohl allgemein bekannt.
Meine Mutter muss diesen Konflikt, den vermutlich viele Mütter durchmachen, gelöst haben, indem sie all ihre Wünsche und Ziele auf mich projizierte. Nicht mehr sie musste perfekt sein oder im Rampenlicht stehen, sondern ich. Ich wurde benäht und ausstaffiert wie ein Püppchen (alle Kleider, die ich Jette jemals genäht habe, riss sie sich unverzüglich vom Leibe), ich wurde beim Ballettunterricht angemeldet und erhielt einen Klavierlehrer. Maßnahmen, die meine Großmutter Henriette voll unterstützte. Möglicherweise trieb sie meine Mutter sogar dazu an. Schließich hatte meine Großmutter eine Kindheit in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts im mondänen Berlin erlebt, als es wichtig war, eine reizende junge Frau für die Gesellschaft zu erziehen. Ich hatte in meiner Kindheit und Schulzeit mehr tägliche Termine als es heute der Fall ist. Und natürlich wurde auch verlangt, dass ich eine gute Schülerin war. Heute kann ich mir allerdings sehr gut vorstellen, wie unangenehm es für meine Mutter gewesen sein muss, in der einzigen Metzgerei unserer Kleinstadt einkaufen gehen zu müssen. Die Tochter, Cordula Stielike, war die Klassenbeste und saß in der Schule nehmen mir. Sie roch immer nach frischen Wurstwaren, was regelmäßig Übelkeit bei mir erzeugte. Heimlich suchte ich immer ihren Polyester- Pulli nach Resten von Fleisch oder Schweineblut ab.
Die erste Frage, die meiner Mutter entgegen gefeuert wurde, wenn sie die Fleischerei betrat, lautete: „Na, was hat denn Greta in der Klassenarbeit geschrieben?“ Dabei hatte die alte Striehlke bestimmt schon längst gewusst, dass Cordula einmal wieder die beste Note geschrieben hatte.
Der alte Strielke war einmal beim Zerlegen eines aufgehängten Schweins mit dem Messer abgerutscht und hat es sich in den Bauch gerammt. Auf diese Weise hätte er sich fast selbst zerlegt.Als Jette 2 Jahre alt war, begann ich wieder zu arbeiten. Auch wenn mir dadurch ein Stück meiner eigenen Identität zurückgegeben wurde, so gingen mir der ewige Zeitdruck und die Doppelbelastung unablässig an die Substanz. Sowohl im Beruf als auch in der Mutterrolle hatte ich das Gefühl, nicht zu genügen. Meine Versagensgefühle wuchsen zu unbezwingbaren Bergen, vor denen ich noch heute stehe.
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Außer Kontrolle
Greta im Sommer 2010
Anfang 2008 machte ich mich selbständig. Bis die Praxis so lief, wie ich es wollte, musste ich viel Zeit und Energie aufwenden. Lange, ermüdende Arbeitstage. Ich verließ als erste das Haus und kam erst spät abends nach Hause, wenn Sebastian Jette schon ins Bett gebracht hatte. Ich konnte meiner süßen kleinen Tochter nur noch im Schlaf über das Haar streicheln und atmete begierig ihren Duft nach warmen Schlaf ein. Denn eines war sicher: ich vermisste meine Tochter!
Am Wochenende musste ich mir oft Arbeit mit nach Hause nehmen, weil ich es sonst nicht geschafft hätte, all die Befunde und Briefe zu schreiben. Also verbrachten Sebastian und Jette die meiste Zeit des Wochenendes allein zusammen. Ohne mich. Gingen im Wald spielen, paddelten auf dem See. Fuhren gemeinsam in den Tierpark. Ich fühlte mich immer mehr ausgeschlossen.
Im Sommer 2010 begann ich, nach der Arbeit nicht mehr heimzufahren.
Statt nach einem langen und für mich harten Arbeitstag nach Hause in den Schoß meiner Familie zu fahren, hatte ich mir angewöhnt, an den See zu fahren. Ich hatte Angst, von der einen (beruflichen) in die andere (familiäre) Überforderung zu stürzen. Ich fühlte mich ausgelaugt und der Aufgabe, sofort in die Rolle der liebenden, fürsorglichen und fröhlichen Mutter und Ehefrau zu schlüpfen, nicht gewachsen. Ich fand einfach nicht den Schalter. Statt mich zu Hause geborgen zu fühlen und aufzutanken, empfand ich meine Stellung zu Hause nur als Fortsetzung der Ansprüche, die an mich gestellt wurden. Gleichzeitig machte das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, mich so traurig, dass ich es nicht mehr aushalten konnte.
Schon mein ganzes Leben begleitet mich meine Liebe zum Wasser. Hallen- und Freibäder kann ich nicht ausstehen, aber jedes Naturgewässer zieht mich magisch an. Als Kinder radelten wir im Schwimmanzug mit dem Handtuch auf dem Gepäckträger barfuß zum Fluss, der sogar Sandstrand hat, um dort die Nachmittage zu verbringen. Die Sommerferien verbrachten meine Eltern mit mir an der Nordsee, meist auf einer der vor der Küste gelegenen Inseln. Auch wenn in Mitteldeutschland das Meer fern ist, sodass Meerweh zu meinem ständigen Begleiter wurde, gibt es zum Glück etliche Seen. Ein Handtuch oder eine Decke hatte ich nie mit. Es war die Spontanität, die es für ich so herrlich mache. Dazu die Freiheitsgefühle, die ich schon immer im Wasser verspürt hatte. Das herrlich kalte und gleichzeitig weiche Wasser umgibt den Körper wie Streicheleinheiten. Man verliert für kurze Zeit den Boden unter den Füßen und gewinnt Abstand zum Festland und damit zum Alltag.
Dummerweise hatte ich mir angewöhnt, dabei zu trinken. Ich begann, den Schmerz und die Unzufriedenheit am See wegzutrinken. Nur nichts mehr spüren.
An einem dieser Abende erwischten mich vier freundliche Polizisten und nahmen mich in ihrem Wagen mit aufs Revier. Mein Auto blieb am See.
Ich hatte 1,8 Promille und war den Führerschein erst einmal los. Nachdem ich abgelehnt hatte, mich von den Bullen vom Revier nach Hause fahren zu lassen, trank ich in einer Kneipe noch ein Bier (hatte ich nicht eigentlich schon genug intus?) und bestellte mir ein Taxi.
Und so sah erst einmal meine Zukunft aus: Taxi fahren. Ich möchte nicht wissen, wie viel Geld ich den freundlichen gelben Autos insgesamt habe zukommen lassen. Aber in all der Zeit kam es nicht einmal vor, dass ich aus der Tür trat und sofort ein Taxi vorbeifuhr, dass ich hätte anhalten können. So etwas gibt es nur im Film.
Ich machte schließlich aus der Not eine Tugend und fing an zu laufen. Seitdem genieße ich die Einsamkeit der Langstreckenläuferin. Dazu laute und harte Musik auf die Ohren. Das Laufen wurde für mich zu meinen Ablassbriefen, um mich von meinen vorangegangenen Sünden zu befreien. Ich nahm 20 kg Gewicht ab. Denn leider hatte das viele Frust- Saufen seine Spuren hinterlassen und meinen Körper nicht schöner geformt. Eine richtige Bier- Wampe war da entstanden. Noch bedauerlicher war, dass mein Figur- Anspruch an mich, nicht in all dem Bier ersoffen war. Und auch die vielen Zigaretten zum Bier hatten mich nicht schöner gemacht. Schon immer habe ich es bedauert, dass es keine Zigaretten gibt, die schlank und schön machen, die Falten verschwinden lassen und so gesund sind wie Vitamine. Das sollte mal erforscht werden. Stattdessen wollen die den Mars erkunden. Wen interessiert der Mars? Ich komme noch nicht einmal in meiner eigenen Welt zurecht.
Aber durch das Laufen war ich wieder recht nett anzusehen und gut trainiert. Allerdings werde ich in Kürze durch die laute Musik beim Laufen ein Hörgerät brauchen.
Unser Nachbar beobachtete meine Lauferei pikiert und unverständlich. Er konnte die Motivation dafür gar nicht verstehen. Als Metzger hat er eine verblüffende Ähnlichkeit mit seinen schweinischen Opfer. Er schlachtete auch zu Hause. Das Quicken der Schweine beim Todesschuss war unerträglich. Jette war immer ganz fasziniert. Ich nicht. Besonders eklig war es, wenn er die Borsten der Schweine abflammte und der Geruch zu uns herüber zog. Naja, leben und leben lassen.Und so laufe ich bis heute. Nur im Winter fällt es mit schwer. Ich mag den Winter nicht. Ich kann Eis, Schnee und Schneematsch nicht ausstehen. Aber das Schlimmste ist die ewige Dunkelheit. Man verlässt am Morgen im Dunkeln das Haus und kommt im Dunkeln wieder. Ich kann jeden einzelnen Isländer verstehen, der wegen der ewigen Dunkelheit säuft wie ein Loch. Vermutlich stehen deshalb in isländischen Telefonbüchern nur die Vornamen der Menschen. Wegen der ständigen Sauferei kann sich bestimmt kein Mensch die schwierigen Nachnamen merken.
Man kann den Sorgen nicht davon laufen, auch nicht, wenn man zwanzig Kilometer oder mehr läuft. Das mag sein. Aber man bekommt Abstand zu den Sorgen. Und dieser Abstand verschafft oft eine andere Blick- und Herangehensweise. Nicht umsonst ist einer der wichtigsten Grundsätze des Buddhismus „drop the thought“. Lass den Gedanken los.
Wahrscheinlich hat Joschka Fischer Recht. Man läuft zu sich selbst und kann sich wieder finden.
Und schließlich sind da ja noch die Endorphine, die glücklich machen.Im Spätsommer besuchte ich meine Eltern. Natürlich mit der Bahn. Die Landschaft flog an mir vorbei, ich starrte trübsinnig aus dem Fenster und hatte das Gefühl, mein Leben flog an mir vorbei. Nichts war greifbar, nichts gehörte zu mir.
Meine Eltern holten mich vom Bahnhof ab. Überflüssig zu sagen, wie unangenehm und peinlich mir die ganze Situation vor ihnen war. Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Ich hatte die ganze Geschichte schon vorher am Telefon gebeichtet, aber so von Angesicht zu Angesicht war es doch noch viel unangenehmer. Erfreulicherweise machten sie nicht viel Aufhebens darum. Wir sprachen auch nicht viel über die Gründe, sie fragten nicht nach, machten sich aber bestimmt ihre Gedanken. Sie ließen mir Zeit, wofür ich ihnen sehr dankbar war. Oder sie hatten Angst vor meinen Antworten auf ihre Fragen und stellten sie daher lieber nicht. Stattdessen versuchten wir, gefährliches Terrain zu vermeiden, machten Touren durch norddeutsche (Hanse-) Städte mit einer netten Mischung aus Kunst und Shopping, tranken Kaffee in den Straßen- Cafés oder gingen abends ins Restaurant mit Blick auf den Fluss.
Eines Nachmittags war ich alleine im Haus. Ich saß in meinem alten Kinderzimmer, ließ die Erinnerungen hochkommen und die Atmosphäre auf mich einwirken. Hier hatte ich meine Platten gehört, Bilder gemalt, Hausaufgaben gemacht und als Teenager meine Träume gehabt. Damals lag das Leben voller Möglichkeiten vor mir. Gerade hatte ich das Gefühl, dass kein Weg mehr vor mir lag, geschweige denn verschiedene. Ich streifte durch die anderen Zimmer, und versuchte die alten Stimmen der Kindheit wieder zu hören.
Ich weiß nicht warum, aber irgendetwas trieb mich auf den Dachboden. Vorsichtig erklomm ich die enge und wacklige Holztreppe nach oben. Dort war es stickig und warm. Die Deckenlampe machte nur trübes Licht, welches den Raum nicht gänzlich ausleuchten konnte. Außerdem fiel noch Licht durch das kleine Dachfenster. In Regalen waren verschiedene Kartons gestapelt. Darin Sachen, die darauf warteten, irgendwann einmal wieder eine Rolle in dem Haus und in dem Leben der Personen zu spielen. Viele Dinge, die eigentlich nicht mehr gebraucht wurden, von denen sich meine Eltern aber doch noch nicht endgültig trennen konnten. Praktisches, Nützliches und Nostalgisches. Jeder Karton voller Erinnerungen. Mein ordentlicher Vater hatte die Kartons beschriftet. Ich fand einen Karton mit meinen alten Kinderbüchern und suchte ein paar schöne für Jette heraus. Auch mein alter Plattenspieler stand in einem der Regale. Ob der überhaupt noch funktionierte? Ein Karton beherbergte meine alte Steinsammlung und auch Strandspiele waren ordentlich aufbewahrt.
Nach einiger Zeit hatte ich genug von der Flut der Eindrücke aus vergangenen Tagen und stieg die alte Treppe im Halbdunklen wieder hinab. Fast schon unten angelangt, stolperte ich über eine lose Stufe und das Brett fiel herunter. Nur dadurch sah ich das Versteck. In der Vertiefung der Stufe lag ein Ordner. Warum versteckt jemand einen Ordner unter einer Stufe? Verdattert setzte ich mich auf die Treppe und betrachtete den Ordner. Es waren handschriftliche Aufzeichnungen. Die Schrift erkannte ich sofort. Es war die Schrift meines Großvaters Alexander. Eine unverkennbare Schrift. Nicht die heutige lateinische Schreibtisch, kein Sütterlin, keine deutsche Kurrentschrift. Irgendeine Mischung aus allem mit leichter Rechts- Neigung, spitzen Winkel und absolut schnörkellos.
Eine rechtslastige Schrift ordnen Graphologen den warmherzigen, ungezwungenen und kontaktfreudigen Menschen zu. Das passt, dachte ich, genauso hatte ich meinen Großvater bislang empfunden und eingeschätzt. Nur leserlich war diese Schrift überhaupt nicht. Beim ersten Überfliegen konnte ich rein gar nichts erkennen. Nur die Blätter, die er für seine Niederschrift genutzt hatte, erkannte ich sofort. Es waren alte, ausgemusterte Zeugnisse der Landwirtschaftlichen Berufsschule, die mein Vater ihm als Schmierpapier gegeben hatte. Ich schmunzelte. Auf diesen Blättern hatte auch ich gemalt, gekritzelt und kleine Geschichten geschrieben.
Mit einigen Mühen konnte ich immerhin entziffern, was da auf meinen Knien lag. Es waren die Memoiren meines Großvaters. Warum versteckten meine Eltern die Aufzeichnungen meines Großvaters. Und vor wem?
Auch wenn ich vermutlich nicht der gewünschte Finder war, legte ich den Order nicht wieder in sein Versteck, sondern beschloss ihn heimlich mitzunehmen und zu lesen. Das würde kein leichtes Unterfangen werden, aber die Neugierde würde es möglich machen.
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Unter Kaiser und Krieg
Henriette 1910 – 1919
Ein Jahrhundert vor Jette erblickte in der Hauptstadt Berlin ihre Ur- Großmutter Henriette das Licht der Welt. Sie wurde zuhause geboren, im Haus des Möbelfabrikanten Ernst Höhler und seiner Frau Charlotte. Es war ein großzügiges Haus am Olivaer Platz in der Nähe des Kuhdamms, einer wohlhabenden Wohngegend. Die Wohnung lag in der ersten Etage, der Beletage. Unten waren die Geschäftsräume des Möbelhandels. Die Räume hatten hohe Decken und ausgiebige Stuckverzierungen. Zur Straße lag der Salon mit einer großen Fensterfront, die Schlafräume waren nach hinten gelegen. Charlotte hatte vor dieser Entbindung eine Bauchhöhlen- Schwangerschaft erlitten und es war anfangs danach nicht klar, ob sie überhaupt Kinder bekommen könne. Sie selbst war in einer Großfamilie mit sechs Geschwistern aufgewachsen. Der Familie ging es finanziell ausreichend gut, trotzdem sorgte ihr Vater dafür, dass auch die Mädchen eine Ausbildung erhielten. Das war in der damaligen Zeit für Frauen nicht selbstverständlich. Charlotte wurde Schneiderin und sie nähte später viel für ihre Tochter und auch ihre Enkeltochter. Letzterer vermachte sie ihr Können. Charlotte wird als patente Frau beschrieben, doch bis dahin sollte es noch ein weiter Weg sein.
Die erste Zeit nach ihrer Eheschließung mit Ernst war nicht leicht für sie gewesen. Sie litt unter der Stille im Haus, die im Gegensatz zu ihrer Kinder- und Jugendzeit stand, in der durch die sechs Geschwister viel Trubel herrschte. Ernst war tagsüber nicht da, das Haus war groß und leer. Charlotte fühlte sich allein und einsam. So oft es ging, floh sie, suchte Zerstreuung in den Geschäften und Cafés auf dem Kuhdamm. Aber sie sorgte dennoch für einen standesgemäßen Haushalt. Sie kannte ihre Pflichten als Ehe- und Hausfrau.
Henriette war ein kleines, zartes Mädchen, das kaum reif schien für diese Welt. Auch wollte sie nicht sofort atmen. Der Arzt, der bei den ersten Wehen gerufen worden war, musste ihr leicht auf den Po schlagen und sie sogar in einen eilig herbei geholten Eimer mit kaltem Wasser tauchen, bis sie endlich den ersten Atemzug tat und schrie. Erleichtert übergab der Arzt das Kind der Hebamme, die es wusch, vermaß und in warme Tücher hüllte. Sie wollte das Kind in die Arme der Mutter legen, doch Charlotte wandte sich ab. Sie war zu müde, die Wehen hatten sie zu sehr angestrengt und geschwächt. Also übergab die Hebamme das Mädchen dem Kindermädchen. Emilie Gurtler war schon im Laufe der Schwangerschaft eingestellt worden und wartete begierig auf das kleine Bündel. Verzückt betrachtete sie es und versprach ihm, leise flüsternd, es ewig zu behüten und zu lieben. Die kleine Henriette, die bis eben noch laut geschrieen hatten, wurde still und schien die angebotene Geborgenheit anzunehmen.
So kam es, dass Henriette zunächst mit zwei Müttern aufwuchs. Charlotte war die gestreng auf die Erziehung, Sauberkeit und Kleidung achtende biologische Mutter, die wenig Herzliches und Mütterliches hatte. Und Emilie, die liebevolle, fürsorgliche, aber angestellte Mutter.
Die biologische Mutter war selten bei dem Kind. Es war in der damaligen Zeit noch nicht üblich, viel Zeit mit seinem Kind zu verbringen. Füttern, Wickeln und Zubettbringen waren die typischen Aufgaben der Kindermädchen, die damit ganz automatisch zu Hauptbezugspersonen wurden. Auch fühlte sich Charlotte schnell überfordert, wenn das Kind schrie und war unsicher, ob sie alles richtig machen würde. Sie hatte keinerlei Erfahrung im Umgang mit Kindern. Als Nesthäkchen war sie verwöhnt und von allen vergöttert worden. Ihre Geschwister waren für ihre Belange zuständig, nicht umgekehrt. Einzig das Ausfahren des Kindes in dem schicken vierrädrigen Korbkinderwagen, der jetzt so modern war, entlang des Kuhdamms oder durch den Grunewald, bereitete ihr Freude. Wenn Bekannte in den Kinderwagen schauten und das hübsche kleine Mädchen bewunderten, wuchs in ihr so etwas wie mütterlicher Stolz.
Liebe und Fürsorge erfuhr Henriette durch Emilie. Sie fütterte das Mädchen, wiegte es in den Schlaf und trug es umher, wenn es Bauchschmerzen hatte. Stundenlang saß sie an der Wiege, flüsterte zärtlich seinen Namen, wobei sie meist die zärtliche Koseform „Jetti“ benutzte. So war sie es auch, der das erste Lächelns des Mädchens galt. Und ihr wird auch das erste Wort Henriettes gegolten haben.
Aber es gab natürlich noch einen Menschen im Leben von Henriette. Den Vater Ernst. Wie in der damaligen Zeit üblich, war er nicht bei der Geburt dabei gewesen. Er war vor den Schmerzensschreien seiner Frau in das Herrenzimmer geflohen. Ein durch die Holzvertäfelung dunkler Raum, in dessen Mitte eine Sitzgarnitur aus schweren Ledermöbeln und unter dem Fenster ein großer Holzschreibtisch stand. Unruhig war er auf und ab gegangen, bis es an der Tür klopfte. Als ihm schließlich das Mädchen gezeigt wurde, überflutete ihn ein großes Glücksgefühl. Vielleicht hätte er enttäuscht sein müssen, dass es kein männlicher Erbe für die Möbelfabrik war. Aber solche Gedanken kamen ihm beim Anblick der kleinen Tochter nicht. Er war fasziniert von ihrem kleinen Gesicht, den kleinen Fingerchen und dem leichten Flaum auf dem Kopf. Immer wieder ging er in das Kinderzimmer und betrachtete das kleine Mädchen, wenn es schlief. Er sah zu, wie Emilie es fütterte und wickelte. Oder er hörte zu, wie Emilie abends für Henriettes sang. Sie kannte die meisten Texte der Kinderlieder nicht, die Melodien konnte sie jedoch sicher summen, Und Ernst genoss das friedliche Bild des lauschenden Kindes. Ganz sacht erlag auch er der schönen Stimme von Emilie.
Für die 17- jährige Emilie war das Leben im Hause der Familie Höhler ein Glücksgriff. Sie war aus der vorpommerschen Stadt Anklam in die Hauptstadt gekommen, um sich eine Anstellung zu suchen. Der elterliche Hof hatte nicht genug abgeworfen um die elfköpfige Familie satt zu bekommen. Schon frühzeitig hatte sie sich als älteste Tochter des Hauses um die jüngeren Geschwister kümmern müssen und so lag es nahe, sich als Kindermädchen zu bewerben. Obwohl in der Großstadt alles fremd war, hatte sie sich schnell einleben können. Sie genoss das vornehme Stadthaus der Familie Höhler mit all seinen Annehmlichkeiten. Insbesondere das eigene Zimmer, das sie dort hatte. Auch wenn es nur eine kleine Kammer war. Aber es war ein eigenes Zimmer, das sie mit niemanden teilen musste. Sicherlich flößte Charlotte als Hausherrin ihr Respekt ein, sie hatte sogar ein bisschen Angst vor ihr, aber es war, so vermutete sie, ein ganz normaler Zustand für das Verhältnis einer Angestellten zur Hausherrin. Außerdem machte die kleine Henriette dieses Unbehagen vollkommen wett. Sie liebte dieses kleine zarte Wesen. Genoss sein Zutrauen und freute sich an seinem Gedeihen.
Anfangs fand sie es verwunderlich, dass Ernst abends zu ihnen in das Kinderzimmer kam. Sie fühlte sich beobachtet und kontrolliert. Aber bald merkte sie, als seine Besuche immer regelmäßiger wurden, dass er die Stimmung in dem Kinderzimmer genoss.
So wunderte sie sich auch eines Abends nicht mehr, als sich die Tür öffnete und Ernst das Zimmer betrat. Sie summte gerade ein Abendlied, doch statt sanft in den Schlaf zu gleiten, stand Henriette in ihrem Bettchen, hielt sich an den Gitterstäben fest und hörte mit großen wachen Augen zu, leicht den Körper nach dem Gesang wippend.
Als sie ihren Vater sah, lächelte sie und versuchte in die Händchen zu klatschen. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und landete auf ihrem dick in Windeln gewickelten Po. Ernst trat an das Bett, hob seine Tochter heraus und setzte sich mit ihr auf einen Sessel.
„Singen Sie doch weiter. Sie haben eine wunderschöne Stimme“, forderte er Emilie auf. Diese errötete und fing mit leicht zittriger Stimme wieder an zu summen. Langsam wurde ihre Stimme wieder fester.
Als sie geendet hatte, sprach Ernst erneut „Sie haben wirklich eine schöne Stimme. Wurde bei Ihnen zu Hause viel gesungen?“
„Nein, eigentlich gar nicht. Zu Hause war immer so viel Arbeit, der Hof, wir neun Kinder, da gab es keine Momente, in denen man auf die Idee kam, zu singen. Daher kenne ich auch nur sehr wenige Lieder und schon gar nicht die Texte. Aber ich mag Musik.“
Ernst wandte sich an seine Tochter. „Und Du, genießt Du auch den Gesang? Hattest Du einen schönen Tag?“ Henriette strahlte ihren Vater an. „Jetzt geht der Tag aber zu Ende und Du gehörst in Dein kleines Bett“. Mit diesen Worten übergab Ernst das Kind Emilie, küsste es noch auf die Stirn und verließ das Zimmer.Am nächsten Abend betrat er wieder den Raum. „Ich habe etwas für Dich“ sagte er zu Henriette, die gerade auf dem Teppich saß und versuchte, ihrem Teddy einen Arm auszureißen. Er übergab ihr ein Päcken und sofort begann Henriette, das Einwickelpapier aufzureißen. „Eigentlich ist es eher ein Geschenk für Sie“ wandte er sich an Emilie. Es war ein Buch. „Die schönsten deutschen Kinderlieder“. Mit Noten und Texten. Dass sie mit Noten gar nichts anzufangen wusste, hatte er nicht bedacht, aber genau in diesem Moment wurde es ihm bewusst. Er räusperte sich. „Zusammen werden wir wohl auch die Melodien hinbekommen“. Er beugte sich zu Henriette hinab, gab ihr einen Kuss und ging.
Am kommenden Sonntag wollte Emilie gerade mit Henriette im Kinderwagen das Haus verlassen, um in der Nachmittagssonne einen Spaziergang zu machen, als Ernst zu ihnen trat. „Meine Gemahlin hat eine Einladung bei ihren Freundinnen zum Kaffee. Ich begleite sie auf dem Spaziergang“. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung und so gingen sie gemeinsam los. Emilie schob den Kinderwagen. Es war ein kalter, aber trockener und sonniger Januartag. Erst gingen sie schweigend, aber dann bat er Emilie von ihrer Familie zu erzählen. Und sie erzählte. Von dem kleinen Hof mit zwei Kühen, eine hatte im letzten Sommer gekalbt. Von den paar Schweinen und einer Handvoll Hühner. Täglich musste der Stall ausgemistet werden. Im Sommer wurde Gras mit einer Sense gemäht. Und wenn es regnete, bevor das Heu eingeholt war, war die ganze Arbeit vergebens. Im Winter wurde mit Holz geheizt, dafür mussten Bäume gefällt und aus dem Wald zum Hof geschafft werden. Schon die kleinsten Kinder mussten mithelfen. Die Mutter war geschwächt, zwölf Schwangerschaften, davon drei Fehlgeburten, hatten ihrem Körper zugesetzt. Der Vater immer voller Sorge. Es war eine traurige Schilderung über ein hartes Leben.
„Dann gefällt es Ihnen bei uns?“ „Oh ja“ antwortete Emilie und sie gingen schweigend weiter. Trafen sie andere Familien, grüßte Ernst, indem er seinen Hut hob. Für Emilie war es ein unwirklicher Nachmittag.Parallel dazu lief das geordnete und gesittete Leben des Ehepaares Höhler. Auf den wenigen, vor Bombenkrieg und über die Flucht geretteten Fotos ist die kleine Familienwelt zu betrachten. Auf einem Foto sitzt die kleine, etwa sieben Monate alte Henriette mit Windel an ein Kissen gelehnt, ein geknotetes Oberteil im römischen Stil tragend. Ein kleines, noch fast kahlköpfiges Mädchen mit großen, strahlenden Augen. Eine Aufnahme einer Fotografin in der Leipziger Straße.
Ernst leitete die Möbelfabrik, Charlotte den Haushalt. Es wurden Einladungen gegeben, sie gingen gemeinsam ins Theater und in die Kirche. Ernst größte Freude war die Mitgliedschaft in der Rudergemeinschaft am Wannsee. Verbrachte er seine Zeit dort, genoss Charlotte den Nachmittagskaffee mit ihren Freundinnen.Es war keine Liebesheirat gewesen. Charlotte war eine hübsche, repräsentative Frau, Ernst eine gute Partie. Man begegnete sich mit Respekt und Würde. Liebe und Leidenschaft waren von untergeordneter Bedeutung. Hinzu kam, dass der Arzt Charlotte von einer zweiten Schwangerschaft abgeraten.
Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass Ernst für die Reize von Emilie empfänglich war. Er war ein lebensfroher Mensch und er sehnte sich nach Zärtlichkeit und Liebe. Aber er war auch nicht leichtsinnig. Er war sich seiner Verantwortung im familiären, gesellschaftlichen und geschäftlichen Leben bewusst. Niemals hätte er seine Stellung leichtfertig aufs Spiel gesetzt.
Und so wäre vermutlich nichts passiert, hätte nicht ein Serbe namens Gavrilo Prinzip am 28. Juni 1914 den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau in Sarajevo ermordet und damit den ersten Weltkrieg auslöst.Die Familie Höhler erreichte die Nachricht über den Kriegsausbruch in Ahlbeck auf Usedom, wo sie ihren Sommerurlaub verbrachten. Man war mit der Bahn angereist. Eine lange und umständliche Reise. Dennoch hatte sich Charlotte völlig umsonst Sorgen gemacht, ob die Fahrt für die vierjährige Henriette zu anstrengend sei, insbesondere, da sie schnell quengelte, wenn sie müde war. Aber die Fahrt war viel zu aufregend, die Vorfreude zu groß, sodass Henriette fröhlich und neugierig blieb.
Die Familie hatte sich in einem Hotel an der Strandpromenade eingerichtet. Noch heute sind die Jugendstilvillen dort Zeugen dieser Zeit. Direkt gegenüber lag die Seebrücke, auf der man meterweit in die Ostsee laufen konnte. Gleich am Abend der Ankunft wanderten sie über die Seebrücke und Henriette war begeistert von den Wellen und der Gischt, die unter ihr tobten. Überhaupt begeisterte sie alles. Alles war neu. Der kilometerlange feine Sandstrand, an dem Ernst mit ihr Burgen baute. Sie quietschte vor Begeisterung, wenn Ernst versuchte, sie im Sand einzubuddeln. Sie stand mit nackten Füsschen im Wasser und übersprang die Wellen, die an den Strand schlugen. Oder spielte Fangen mit ihnen, in dem sie ihnen nachlief und wieder vor ihnen weg. Sie sammelte mit überraschender Ausdauer mit Charlotte Muscheln und ließ sich von ihr im Strandkorb vorlesen, bis ihr vor Müdigkeit die Augen zufielen.Sie sah nicht die Schlagzeilen der Zeitungen. Dass Deutschland Österreich- Ungarn die bedingungslose Unterstützung zusagte. Dass Österreich- Ungarn am 28. Juli 1914 dem Königreich Serbien den Krieg erklärte. Bekam nicht mit, wie sich Deutschland in den Krieg katapultierte und sah nicht die dunklen Wolken, die tief am Horizont über Europa hingen. Die einzigen Wolken, die sie sah, waren die Wolken eines Gewitters, das am Vorabend der Abreise über Usedom tobte. Die drei waren auf ihrem Zimmer, das Fenster stand offen, als plötzlich immer stärkerer Wind aufkam, der die Gardinen wehen lies. Die Fensterläden wurden hin und her gerüttelt, es schepperte und klapperte. Sturzartig schlug der Regen gegen das eilig geschlossene Fenster. Der Himmel wurde von Blitzen über dem Meer erleuchtet und Donner krachten über ihnen herein. „Da draußen ertrinkt die Welt“, sagte Charlotte und keiner von den Erwachsenen konnte schon ahnen, wie recht sie mit dieser Aussage hatte.
Ernst musste kämpfen. In der 5. Armee, die sich zunächst unter General- Oberst Moltke auf einer Linie von Metz Richtung Verdun vor grub. Nach anfänglichen Erfolgen glaubte man an einen kurzen und schnellen Eroberungssieg und in der Heimat jubelten die Menschen in ihrem Siegestaumel. Doch bereits im September 1914 blieb der deutsche Angriff im Schlamm der Schützengräben der Westfront stecken. Unter Anweisung der Generäle, für die das Ganze eine Art Strategiespiel im Warmen und Trockenen ihrer riesigen Schreibtische war, wurde um jeden Meter gekämpft. Ging es einen Schützengraben weiter vor, so musste kurzerhand wieder der Rückzug angetreten werden. Auf dieser nahezu erstarrten Frontlinie verloren Tausende von Soldaten auf beiden Seiten ihr Leben.
Ernst sah den Tod. Er sah ihn, hörte ihn und roch ihn. Bei seinem ersten Heimaturlaub im Dezember 1914 war er ausgehungert nach Leben und Liebe. Die Mauer aus Vernunft zwischen ihm und Emilie brach sofort in sich zusammen. Er liebte sie. Vorsichtig und sanft. Er ließ ihr Haar durch seine Finger gleiten, fuhr mit den Fingerkuppen ihren Gesichtskonturen entlang und spürte ihre Lippen auf den seinen. Er liebkoste ihren Hals, streichelte ihre Brüste und bedeckte ihren Bauch mit Küssen. Die Innenseite ihrer Schenkel fuhr er zärtlich hoch. Als sie sich vereinten, vergaßen beide für kurze Zeit das Grauen um sie herum, den Krieg, den Tod, ihre Herkunft und ihre Zukunft. Für kurze Zeit stand die Welt für sie still.Charlotte bekam von alledem nichts mit. Vielleicht sah sie weg, vielleicht war sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Sie hatte während der Abwesenheit von Ernst dem alten Höhler bei der Leitung der Möbelfabrik geholfen. Ausgerechnet in diesem Jahr hatte der alte Höhler einen Schlaganfall erlitten und brauchte ihre Hilfe. Und so hatte sich Charlotte eingearbeitet. Eine Frau aus einfachem Hause, die nur schneidern gelernt hatte und die sich in den letzten Jahren nur mit Mode und Gesellschaft beschäftigt hatte.
Sie wuchs an den Aufgaben und damit wuchs ihr Stolz und ihr Selbstbewusstsein. Die Belastung brachte ihre Stärke hervor.
Es machte es Spaß, mit dem alten Höhler über Zahlen und Schriften zu hocken. Sie hatte sich das Rauchen angewöhnt und abends ließen die Geschäftsleute den Tag mit einer Zigarette ausklingen. So ist es denkbar, dass sie von der kurzen und intensiven Liebe zwischen ihrem Gatten und dem Kindermädchen nichts wahrnahm.Als Ernst das nächste Mal nach Hause kam, war es April 1915. Diesmal kam er für immer. Ein Geschoss hatte seinen rechten Arm zerfetzt. Der Arm wurde noch in der Champagne in einem Lazarett amputiert. Niemals wieder würde sich Ernst an einem guten Champagner mehr erfreuen können. Der Krieg war damit für ihn vorbei. Welch Glück, denn so hatte er ihn im Gegensatz zu Tausend anderen überlebt. Aber Ernst nahm dieses Glück nicht sofort wahr. Die Wunde hatte sich entzündet. Fieber wütete in seinem Körper. Er war geschwächt und apathisch. Wieder zeigte Charlotte Stärke. Sie pflegte ihn, verband seine Wunde, wusch und fütterte ihn. In den Zeiten, in denen er schlief, ging sie weiter den Geschäften der Fabrik nach. Langsam erholte sich Ernst und nahm Gewahr, dass Emilie nicht mehr da war.
„Wo ist Emilie?“ fragte er seine Frau.
„Sie ist fortgegangen, um zu heiraten. Im letzten Monat brachte sie einen jungen Mann mit. Ich glaube, er ist Kommunist. Sie sagte, sie erwarte ein Kind von ihm und bat um ihre Entlassung“.Ernst traf es wie einen Schlag, doch er zeigte es nicht. Für ihn blieben viele Fragen offen. Liebte Emilie diesen Mann? War das Kind, das sie erwartete, sein Kind? Was wusste Charlotte? Aber darüber konnte er mit seiner Frau natürlich nicht sprechen. Sie sprachen nie wieder über Emilie. Nur über ein neues Kindermädchen.
„Möchtest Du ein neues Kindermädchen einstellen?“ fragte Ernst seine Frau. „Nein, ich denke nicht. Für Henriette beginnt bald das Schulleben und bis dahin können wir sie erziehen. Ich denke, das Hausmädchen als Hilfe reicht.“So war auch aus Henriettes Leben die liebevolle Emilie verschwunden. An ihre Stelle trat nun endlich die richtige Mutter. Charlotte begann mit fünf jähriger Verspätung ihre Mutterrolle anzunehmen. Zwar nicht so liebevoll und zärtlich, wie es Emilie getan hatte, sondern weiterhin streng und eher unnahbar. Aber sie kümmerte sich um Henriette, erzog sie zu einer kleinen ordentlichen Dame, die wusste, wie man sich bei Tisch und in der Gesellschaft zu benehmen hat. Die lustige und unbeschwerte Seite von Henriette blieb jedoch Ernst vorbehalten. Dieser hatte die Geschäfte der Möbelfabrik wieder übernommen. Sie forderten ihn in der angeschlagenen wirtschaftlichen Lage sehr. Seinen Ausgleich holte er sich bei seiner Tochter. Sie gaben sich gegenseitig Freude und Vergnügen und Ernst fand den Weg zurück ins Leben.
Auch aus dieser Zeit ist noch eine Fotografie erhalten. Es zeigt die Familie Ernst Höhler im Jahr 1916. Charlotte, inzwischen ein bisschen fülliger geworden, eine stattliche Frau im langen schwarten Rock und glänzender schwarzer Bluse mit weißem Spitzenkragen. Die dunklen Haare zu einem strengen Knoten aufgesteckt. Ernst groß und schlank, eine Tolle in den schwarzen Haaren mit einem Oberlippenbart. Er trägt einen dunklen Anzug mit breiter Krawatte und weißem Hemdkragen. Henriette in weißem Rock, blauem Jäckchen und weißer Bluse mit großem Kragen. Die strohblonden, kinnlangen Haare gelockt, mit großer weißer Schleife auf dem Scheitel. Ein hübsches kleines Mädchen mit artiger Ausstrahlung. Auf dem Bild ist vom ersten Weltkrieg nichts zu ahnen. Von Emilie Gurtler ebenfalls nicht. Ernst steht seitlich gedreht, vor ihm seine Tochter, die den Armstumpf völlig überdeckt. Ein Bild einer heilen Familie in einer heilen Welt.
Henriette blieb auch als Schulkind ein schmales blasses Mädchen, das auf den erhaltenen Fotos wie durchsichtig erscheint. Auf einem der Fotos, auf dem sie den damals üblichen Matrosen- Anzug trug, schließlich wollte der Kaiser eine große Flotte, wirkt sie wie verloren. Ein weiteres Foto zeigt Henriette und Charlotte, als diese acht Jahre alt war. Henriette trägt ein weißes Spitzenkleid, wieder mit großer Schleife im leicht gelockten blonden Haar. Das Gesicht hatte sich gestreckt, blieb aber blass. Die Augen groß und dunkel. Ein zartes, zerbrechliches Kind.
Sie wurde mit sieben Jahren eingeschult und ging in die Fürstin- Bismarck- Schule in der Sybelstraße. Die Schule war 1857 als höhere Mädchenschule gegründet worden. Auf diese Schule gingen viele jüdische Mädchen. Noch im hohen Alter erinnerte sich Henriette immer wieder daran, dass sie siebzehn Jüdinnen in der Klasse hatte. Dabei hatte sie eine ganz besondere Art, die Zahl siebzehn zu betonen. Was sie mir mit dieser immer wieder gemachten Äußerung klar machen wollte, blieb mir lange unklar. Adolf Hitler war noch entfernt und doch spielte Antisemitismus schon eine große Rolle. „Die reichen Juden“ lösten viel Neid bei den Deutschen aus. Waren die Juden keine Deutsche? Ich lernte letztens einen älteren Herren mit ausländischen Namen kennen. Auf meine Frage, aus welchem Land er stamme, antworte er mir, er sei Jude. Dabei hatte ich doch gar nicht nach seiner Religionszugehörigkeit gefragt.
Im Internet rühmt sich die alte Schule von Henriette heute damit, dass sie viele jüdische Schülerinnen hatte. Heute ist man stolz darauf.
Henriette war den Kontakt mit Gleichaltrigen nicht gewohnt und tat sich anfangs schwer. Mit der Zeit entwickelte sie jedoch Freundschaften. Besonders zur adligen Lilli, die in der Schule neben ihr saß. Diese Freundschaft wurde sehr eng. Dazu kam noch ein Mädchen namens Luise und so wurden sie ein Freundinnen- Kleeblatt.
Morgens wurde Henriette vom Hausmädchen der Familie Höhler zur Schule gebracht, mittags nahm Ernst, der zum Mittagessen nach Hause ging, sie mit. Die Nachmittage verbrachte sie viel mit Charlotte, die immer mehr Interesse für ihre Tochter aufbrachte. Je älter Henriette wurde, um so mehr konnte sie mit ihr anfangen. Sie gingen spazieren, flanierten den Kuhdamm entlang oder gingen ein Stück Kuchen essen. Außerdem waren die Nachmittage gefüllt mit Klavierunterricht und Tanzstunde. Charlotte blieb weiter eine strenge, aber liebevollere Mutter, die auf die gute Bildung ihrer Tochter achtete.
Die Schule wurde von dem älteren Oberstudiendirektor Dr. L. geführt. Auch die anderen Lehrer waren entweder älter oder invalide. Gesunde junge Männer gab es in Berlin nicht mehr. Die, die noch lebten waren an der Front. Dr. L. glaubte noch an den deutschen Sieg und so glich der Unterricht im Kommandoton eher dem Drill in einer Kaserne. Hauptinhalt waren Durchhalte- Parolen, die mittlerweile paradox angemutet haben mussten. Denn der erste Weltkrieg war längst in Berlin angekommen. Die Engländer hatten die Seeblockade verschärft, woraufhin die Deutschen den totalen U- Boot- Krieg erklärt hatten. Nachdem die Deutschen auch amerikanische Schiffe versenkt hatten, hatte Amerika im April 1917 den Deutschen den Krieg erklärt und es wurde immer enger für die Deutschen. Die Menschen hungerten und froren. Lebensmittel gab es nur auf Zustellung, vor den leeren Geschäften wurden die Schlangen immer länger.
Eine ernste Schulzeit. Keine unbeschwerte Kinderzeit. Henriette sah sich in einer Welt voll gekrümmter Erwachsener mit ernsten Gesichtern. In mitten von Angst und Sorgen. Eine Kindheit ohne Lachen, eine Kindheit mit ständigem Hunger. Nie würde Henriette die Zuckerrüben- Zeit vergessen.
Im Oktober 1918 bat Deutschland um Waffenstillstand. Dies war die Geburtsstunde der Dolchstoßlegende, denn schließlich hatte man nicht durch die Besiegbarkeit des deutschen Heeres verloren, sondern durch die revolutionären, sozialistischen und kommunistischen Parolen der Opposition in der Heimat. Diese „Vaterlandslosen“ fielen dem deutschen Soldaten, der sein Leben für das Vaterland einsetze, in den Rücken.
Am 09. November 1918 wurde die Weimarer Republik ausgerufen und am 28.11.1918 dankte Kaiser Wilhelm der II ab, nachdem die USA dies zur Bedingung gemacht hatten, um den Waffenstillstand zu akzeptieren.
1919 wurde in der Pariser Friedenskonferenz im Schloss von Versaille Deutschland und seinen Verbündeten die alleinige Verantwortung für den Ausbruch des ersten Weltkrieges zugeschrieben und mit Gebietsabtretungen sowie Reparationszahlungen belegt. Die Reparationszahlungen hatten eine Höhe, die Deutschland nicht leisten konnte. Statt des ersehnten Friedens im Wohlstand kamen nun Armut und Hunger. Das deutsche Volk fühlte sich getreten und gedemütigt, dachte sehnsüchtig an die glorreichen Zeiten unter Kaiser Wilhelm zurück und machte die Demokratie für den Untergang verantwortlich. Mit Ausbrechen der Weltwirtschaftskrise, als sich die Lebensbedingungen der Menschen immer weiter verschlechterten, wurde in Zusammenhang mit der immer wieder belebten Dolchstoßlegende und dem zunehmenden Judenhass, der Weg für Hitler geebnet.
Henriette erlebte das Kriegsende zu Hause mit ihren Eltern. Am Fenster stehend sahen sie auf die Straße hinunter, wo die Menschenmenge jubilierte. „Endlich ernten die Arbeiterklassen die Früchte ihrer langjährigen Arbeit. Jetzt wird alles besser!“, rief ein Mann auf einem Podium stehend in die Menge. „Wird jetzt wirklich alles besser?“ fragte Henriette ihren Vater. „Ich weiß es nicht“, antwortete Ernst. Aber es schien, als glaubte er nicht daran.
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Die Anzeige
Greta im Herbst 2010
Mein Leben wurde geordneter. Sebastian fuhr mich zur Praxis und holte mich auch wieder ab. Wenn seine Dienstzeiten nicht zu meinen passte, fuhr ich mit dem Taxi. Und ich lief. Kilometer für Kilometer. Lief ich vor mir weg oder war ich auf dem Weg zu mir selbst? Ich spürte es nicht.
Zusätzlich versuchte ich mein Leben und meine Versagensängste zu kompensieren, indem ich schrieb. Zeile für Zeile über jeden Gefühlszustand, in dem ich mich in der aktuellen Zeit befand. Eine Art Tagebuch in Verbindung mit den Erkenntnissen, der damals schon seit etlichen Stunden laufenden Psychotherapie.
Leider fand ich trotzdem nicht zurück in meine Familie. Jette blieb mir fremd und ein Aufflackern der Liebe zwischen Sebastian mir stellte sich nicht ein.
Die Depression blieb.In der mir aussichtslos erscheinenden Lage stellte ich an einem Abend im September folgende Anzeige ins Netz:
„Mein Leben ist nach außen vermutlich ziemlich perfekt: Beruf, Karriere, Mann, Kind, Haus (Reihenfolge willkürlich). Doch die hinter der glänzenden Fassade steckende Monotonie des Alltags ist grau und schmeckt fad. Ich bin auf der Suche nach einer Nähe, die vielleicht eine virtuelle E- Mail- Freundschaft spenden kann. Gibt es da draußen irgendwo einen Mann, der mit mir durch den Alltag schlingern will, auf der Suche nach den Glanzpunkten des Lebens?“
Die Antworten kamen zahlreich. Die meisten waren oberflächlicher Natur. Viel ist von ihnen nicht übrig geblieben. Einer der Mailer hat bei mir die Leidenschaft für das Marathon- Laufen weiter entfacht, wofür ich ihm sehr danke und ihn nicht vergessen werde. Einer ist verantwortlich für meinen aktuellen Musikgeschmack – auch dafür danke ich. Einer schickte mir ein Bild seiner Erektion, was mich nicht wirklich beeindruckt hat, aber auch das vergisst Frau natürlich nicht.
Eine Mail war anders. Das heißt nein, das ist nicht richtig. Denn beim ersten Lesen dachte ich noch „schon wieder so ein selbstherrlicher Gockel“. Aber ich las die Mail dann doch mehrfach.
08.10.2010 09:31 Uhr
„Hallo! Was für ein fulminanter und wohltuend ehrlicher Eintrag von dir. Ich konnte mich mit meinem Alltag, meinem Umfeld, meinem Leben darin wiederfinden. Diese „grausige Monotonie des Alltags“ versuche ich seit einiger Zeit durch zwar alte, aber nicht vergessene Träume zu kolorieren. Vor drei Jahren habe ich mich vorläufig und nicht ganz freiwillig aus dem Hamsterrad meines alten Jobs verabschiedet, mir dann noch eine längere Pause verordnet, um das viel zu hohe Tempo aus meinem Leben zu nehmen. Du kriegst halt nicht mit, was am Wegrand passiert, wenn du stur geradeaus rast. Die glänzende Fassade mit Frau, Kind, Haus existiert bei mir auch, wobei mir dieser Mikrokosmos ganz lieb ist und ich versuche, ihn gegen eine Welt, die zunehmend dem Wahnsinn und der Dämlichkeit zu verfallen scheint abzuschotten. „Karriere“ ist bei mir unter den bösen Wörtern eingeordnet. Nach meiner Pause habe ich mir einen Job gesucht, in dem das Umfeld passt und ich die Dinge mit Ruhe angehen kann. Kurzum, ein Job, der mir nicht allzu sehr bei meinen Träumereien über die Zukunft in die Parade fährt und mir ein Maximum an freier Zeit gönnt. Ach ja, diese Träumereien bestehen darin, in absehbarer Zeit, konkret, wenn dieses Haus nicht mehr der Bank gehört, mich den lieben langen Tag mit den Dingen zu befassen, die mir wichtig sind und nun wichtig bleiben werden: Schreiben und Musik. Unterschwellig waren diese beiden Bedürfnisse die letzten zu schnell verlebten zehn Jahre immer präsent, und es wird höchste Zeit, dass sie wieder den Stellenwert einnehmen, den sie verdient haben. Ich bin Chris, ich bin 42 Jahre alt, habe einen sechsjährigen Sohn und eine überaus geduldige Lebensgefährtin, die es gewohnt ist, bei unseren ständigen Spinnereien die Augen zu verdrehen. Aber so schlimm scheint es nicht zu sein, immerhin bleibt sie ja bei uns. Hast du Lust zu antworten? Ich würde gern mehr über dich erfahren, deinen Alltag, vor allem aber über die kleinen bunten Momente, die DICH in der Spur halten. Alles Gute.“
„Kleiner Mikrokosmos bestehend aus Frau und Sohn“. Das war ja genau das, was ich nicht suchte. Nicht, dass ich glückliche Familien nicht ausstehen kann. Es ist wunderbar, wenn es so etwas gibt. Aber das war doch gerade mein Problem. Meine Enttäuschung darüber, dass ich keinen glücklichen Mikrokosmos um mich hatte. Und diese Enttäuschung schmerzt um so mehr, wenn andere einem das fehlende Glück so vor Augen halten. Es ist also völlig unklar, warum ich antwortete. Die Antwort fiel entsprechend hart und unfreundlich aus.
08.10.2010 11:35 Uhr
So so, Du findest meinen Eintrag fulminant. Ich finde ihn eigentlich eher erschreckend. Den Job- Wechsel brauche ich wohl auch, ich denke zumindest immer intensiver darüber nach. Ich hatte mich vor zwei Jahren selbständig gemacht und jetzt werde ich von der Verantwortung und dem Stress immer mehr erdrückt. Da bist Du schon sehr viel weiter als ich, beneidenswert! Ein weiterer Unterschied ist, dass ich meinen familiären Mikrokosmos ebenfalls eher als erdrückend empfinde. Diesbezüglich ist eine Lösung noch gar nicht in Sicht, weil ich für meine siebenjährige Tochter eigentlich gerne die heile Familienwelt aufrechterhalten will. Sozusagen mein Dilemma Nummer zwei. Sich seinen Träumereien hingeben zu können und nur noch das zu machen, was man möchte, ist natürlich ein schönes Ziel. Ich würde mich schon mit Kleinigkeiten zufrieden geben. Die Welt einmal wieder mit den Augen eines Teenagers sehen zu können ohne den Zeitdruck, den Zwang, die ewigen organisatorischen Dinge. Und leider habe ich im Moment wenige kleine bunte Momente, die mich in der Spur halten. Ehrlich gesagt, ich empfinde mich im Moment eher gänzlich aus der Spur gekommen. Ich nehme mal an, dass Dir das jetzt doch zu hart und pessimistisch klingt. Sorry, eigentlich kann ich auch lustig und fröhlich. Nur eben im Moment nicht. Viele Grüße, Greta.
Noch unklarer ist, warum ich dennoch eine nochmalige Antwort erhielt. Das bleibt für mich das ewige Geheimnis zwischenmenschlicher Beziehung. Leider nicht das einzige.
08.10.2010 12:38 Uhr
Hm, du scheinst dich im Moment tatsächlich dort zu befinden, wo ich vor gar nicht so langer Zeit auch war. Mir wurde der Job auch zur reinen Last, und was das Familienleben angeht, trug das auch dazu bei, dass ich mich mit dem aus meinem alten Leben verabschiedet habe / verabschieden musste, was heute so bildhaft als Burnout bezeichnet wird. Wir standen mehr als einmal kurz vor der Trennung, und wie bei euch habe ich dabei nur die Zähne zusammengebissen, weil ich es meinem Kind nicht antun wollte. Wir sind in diesem Mikrokosmos weit davon entfernt, wirklich glücklich zu sein, wir funktionieren, wir kitten viel und zerstören dabei fast genauso viel. Es wundert mich häufig, dass es überhaupt geht. Und auch bei uns wird diese Lösung wohl nicht ewig funktionieren. Ich glaube, für mich ist es im Moment eine Art Atempause, nicht so etwas theatralisches wie das Auge des Sturms, eher ein gedankliches Konstrukt aus Träumen und Zielen, dass ich mir aufgebaut habe, um nicht alles hinzuschmeißen. Und ich denke, das kann ich ein paar Jahre so durchhalten. Ich glaube, in Situationen, wie du deine beschreibst, hilft meist nur eine Auszeit, ein Innehalten und ein Moment, sich von außen zu betrachten und sich neue Ziele zu setzen. Wie du sagst: der Blickwinkel des Teenagers. Wieder neugierig sein, naiver, unkonventioneller, und das alles mit positiver Grundfärbung. Dafür braucht es Zeit, und das ist wohl im Moment für dich eine der größeren Schwierigkeiten – keine Zeit für dich. Oh Mann, ich rede hier Zeugs daher und begebe mich mit irgendwelchen Ratschlägen aufs Glatteis. Bin sonst nicht so ein Besserwisser. Liegt vielleicht daran, dass ich deine Situation nachempfinden kann und für mich eine (Interims-)Lösung gefunden habe. Und nein, das alles klingt mir nicht zu hart und pessimistisch. Ich hatte noch ganz andere Worte. Es ist eine schlimme Phase, aber ich denke schon, dass du da herausfindest. Irgendwie klingt da bei dir so was Kämpferisches durch. Chris
So überraschend es war, dass er noch einmal antwortete, so wunderbar war es auch. Es war der Beginn unserer E- Mail- Freundschaft, die nicht lange nur eine E- Mail- Freundschaft blieb.
08.10.2010 13:04 Uhr
Früher hätte ich mich als kämpferisch eingeschätzt, im Moment, total am Boden liegend, empfinde ich kaum noch Kraft. Ich brauche dringend eine Atempause, aber als Selbständige ist das gar nicht so leicht. Und alles hinschmeißen, was vielleicht das Richtige wäre, macht man auch nicht so eben mal schnell. Das will überlegt sein, auch aus finanzieller Sicht. Aber Geld ist eben nicht alles. Besonders frustriert mich, dass mein Mann, der echt lieb und nett ist, mir so gar nichts geben kann. Das liegt bestimmt nur an mir, ich lasse ihn kaum noch an mich heran. Weder emotional noch körperlich. Wenn ich mich ihm wenigstens wieder öffnen könnte. Aber aus Gründen, die ich nicht kenne, kann ich das nicht. Insgesamt fühle ich mich fürchterlich einsam. Ich habe einige negative Erfahrungen mit Freundschaften gemacht. Ich habe deswegen mittlerweile Angst, Menschen näher an mich heran zu lassen. Und das macht einsam. Es ist ein richtiger Teufelskreis. Hinzukommt dieser fürchterliche Winter. Ich hasse diese Jahreszeit. Im Sommer ist immer alles leichter. Jetzt ist alles kalt und grau. GRUSELIG. Ich fürchte, es ist mehr als ein Burnout. Und wo ist der Ausweg? Du beschäftigst Dich gerne mit Musik und Schreiben? Nur E- Mails schreiben oder noch mehr? Musik aktiv oder passiv? Würde mich interessieren. Also, wenn Du noch mal antworten magst, freue ich mich. Viele Grüße, Greta.08.10.2010 13:45 Uhr
Meine Frau wirft mir auch öfters vor, ich sei abweisend. Teilweise stimmt das, ich ziehe mich gern zurück, brauchte und brauche viel Zeit für mich und die teils verqueren Gedanken. Zu der harten Zeit führte das auch so weit, dass wir beide versucht haben, uns in der jeweiligen Einsamkeit einzurichten. Heute umarmen und küssen wir uns ab und an wieder, eher routiniert und geschäftsmäßig, aber dieses Arrangement ist immerhin etwas. Hier schneit es gerade. Ich kuriere eine Salmonellen- Infektion aus, die ich mir in einem Restaurant eingefangen habe. Solange der Winter noch jung ist und mehr weiß als grau, ist er zwar auch nicht unbedingt mein Freund, aber die ein oder andere gute Seite kann ich ihm abgewinnen. Ich habe als Jugendlicher mit dem Schreiben angefangen. Hatte nicht gerade eine traumhafte Jugend, und das half mir, meine Gedanken zu ordnen, die überbordenden Gefühle wie Wut, Liebe, Verzweiflung und alles, was so zu einem holprigen Erwachsenwerden gehört unter Kontrolle zu halten. Ist nicht immer gelungen. Dann habe ich so etwas wie „Auftragsarbeiten“ angenommen, zum Beispiel Liebesbriefe für gute Freunde. Deren Partnerinnen waren begeistert, ich dagegen habe in diesen Dingen wenig auf die Reihe bekommen, wenn es um mich ging. Ich schrieb Kurzgeschichten, stampfte mit einem Freund eine Schülerzeitung aus dem Boden und schrieb Songtexte für die Band. Die Band war einige Jahre mein Ein und Alles. Wir waren eine unzertrennliche Truppe, bis jeder zwecks Studium seine eigenen Wege irgendwo in diesem Land ging. Ich habe dann aus mir heute unerfindlichen Gründen mit der Musik und dem Schreiben aufgehört und mich darauf erst viele Jahre später wieder besonnen, als ich mitten in der Krise steckte und überlegen musste, wie ich die zweite Hälfte meines Lebens nun ausfülle. Ich hatte auch mal jemanden, mit dem ich oft schrieb und wirklich alles austauschte, was mich bewegte. Sie ist meine Cousine, wir galten beide als die schwarzen Schafe unserer Familie, weil unsere Biografien von dem abwichen, was man gern gesehen hätte. Wir schrieben uns über viele Jahre und konnten uns daran festhalten. Leider ist Andrea kurzzeitig in der Psychiatrie gelandet, seitdem hat sie den Kontakt zur Familie, einschließlich ihrer Eltern und mir, radikal abgebrochen. Ich verstehe sie, schade ist es trotzdem. Was Freundschaften angeht, bin ich auch eher misstrauisch. Es dauert eine Zeit, bis eine gewisse Tiefe erreicht ist. Bei vielen Menschen in meinem Umfeld dachte ich, es könne eine Freundschaft entstehen. Letztendlich kam es fast nie dazu. Ich habe festgestellt, dass die alten Freunde von früher, zu denen ich heute teilweise wieder Kontakt habe, damals wie heute die richtige Wahl waren. In welchem Bereich bist du selbständig, dass es dir so einen gewaltigen Stress und organisatorischen Kram bereitet? Wie gerne würde ich dir einen Ausweg aufzeigen, aber meine Strategien werden wohl nicht deine sein. Hast du etwas, dass du gerne tust? Auch im gruseligen Winter? Chris
08.10.2010 14:28 Uhr
Ich bin niedergelassene Ärztin. Davor habe ich an einer Uni- Klinik gearbeitet, dort war es durch die ewigen Dienste noch schlimmer. Was ich gerne tue? Ich bin in diesem Jahr auf den Trichter gekommen, dass mir Sport gut tut. Ich lag im Februar auch in der Psychiatrie, ich habe das „nette“ Krankheitsbild einer Depression. Damals hätte ich mich am liebsten umgebracht. Durch die Tabletten war ich dicklich geworden, ich konnte mich überhaupt nicht mehr leiden. Dann habe ich angefangen zu Laufen. Immer mit lauter Musik auf den Ohren. Gut zum Aggressions- und Fettabbau. Ich habe wieder 12kg abgenommen, sehe wieder figürlich hübsch aus, was mir sehr wichtig ist. In sofern hat mir der Sport geholfen.Ich schreibe auch sehr gerne, leider nicht besonders gut. Mein Traum für das nächste Leben (oder für die verbleibende Hälfte?) wäre zu schreiben, Kurzgeschichten oder Bücher. Ich habe zig angefangene Bücher auf meinen Computern, aber eben nur angefangen. Zu mehr reicht es nicht. Musik höre ich eigentlich total gerne, sie zieht mich leider nur sehr oft runter. Daher höre ich jetzt vor allem Hörbücher, um mich abzulenken. Es ist aber ein sinnlicher Verlust, keine Musik zu hören. Nur stecken in vielen Liedern für mich so viele Erinnerungen und die Unfähigkeit, Vergangenes zu bewältigen, wird dann manchmal übermächtig. Grundsätzlich finde ich es zwar manchmal hilfreich zu weinen, dass kann ja die Seele auch befreien. Aber im Moment ist mein Pensum an Weinen so groß, dass ich es versuche nicht auch noch aktiv über Musik herbeizuziehen. Früher habe ich gerne Klavier gespielt, hauptsächlich Improvisationen. Tja, mehr Dinge, die ich gerne tue gibt es nicht. Bedingt durch meine Depression bin ich etwas antriebsarm und mutlos. Ich gehe so gut wie nie abends aus. Ab und an mal mit ein paar anderen Irren, die ich vom Krankenhausaufenthalt kenne. Aber nicht regelmäßig. Zuhause läuft meist abends der Fernseher, das allerdings komplett ohne mich. Dem kann ich gar nichts abgewinnen. Meist gehe ich relativ früh zu Bett, weil mir der Tag einfach zu lang wird. Mit dem Erfolg, dass ich dann mitten in der Nacht ausgeschlafen bin und nicht wieder einschlafen kann. Passt wohl auch gut zur Gesamtsituation. Liebe Grüße, Greta
08.10.2010 14:38 Uhr
Ich habe eine Menge auf das zu antworten, was du schreibst. Es gibt so viele Parallelen. Ich muss jetzt erstmal meinen Sohn von der Schule abholen, und der Rest des Nachmittags ist verplant. Ich antworte dir heute Abend ausführlich. Chris
08.10.2010 14:41 Uhr
Bis heute Abend. Ist nett mit Dir. Greta.08.10.2010 21:04 Uhr
So, das Kind ist ins Bett gebracht, die Geschichte gelesen und meine Frau sitzt vor dem Fernseher. Für mich ist das auch eher nichts, meist läuft nur blanker Schwachsinn. Vor einigen Jahren bin ich wieder ans Lesen gekommen, keine Fachliteratur, nur Belletristik. Seitdem möchte ich auf Bücher nicht mehr verzichten und es gibt mir weitaus mehr, als vor der Kiste zu hocken.
Mit einer Depression wurde ich auch tituliert, das war gleich nachdem ich mich aus dem letzten Job verabschiedet habe. Mir wurden Tabletten verschrieben, die ich auch eine Zeit lang nahm, dann aber absetzte, als es wieder besser lief. Im April 2008 machte ich eine psychosomatische Reha. Die war wirklich gut und ließ mich richtig runterfahren, zur Ruhe kommen und Prioritäten neu setzen. Dort habe ich den Sport für mich wiederentdeckt. Ich habe es schon fast vergessen, aber mir ging es im Winter abends bei einsetzender Dunkelheit so dreckig, dass ich mich tatsächlich nach draußen getraut habe und um die Häuser gerannt bin. Jetzt habe ich einen Crosstrainer und halte es tatsächlich durch, an fünf Abenden in der Woche das Ding zu benutzen. Es tut gut, die Gedanken sortieren sich, alle Werte, die in kritischen Bereichen waren (Blutdruck, Cholesterin) sind gut, und ich kann recht gut schlafen. Zu meinem „Burnout“ kam damals noch die falsche Diagnose einer KHK, natürlich exakt zum falschen Zeitpunkt. Ein Jahr später stellte sich diese Diagnose als fehlerhaft heraus, aber diesen Zeitraum möchte ich nicht noch einmal durchleben. Ja, einen Roman zu schreiben schwirrt mir schon lange im Kopf herum. Ich habe hier auch den ein oder anderen Beginn herumliegen, im Moment sind die Selbstzweifel und ein fataler Hang zum Perfektionismus allerdings Hindernisse, die ich lernen muss, zu umschiffen. Die Musik der Vergangenheit, die mich herunterzieht, höre ich recht selten, und wenn, dann um eine bestimmte Emotion hervorzurufen, sozusagen als kontrollierten Versuch. Mein musikalisches Spektrum ist recht breit und hängt wie bei den meisten stark von meinen Stimmungen ab. Klassik, Jazz, Rock bis Hardrock, je nach Zustand. In der Band habe ich Bass gespielt, ein phantastisches Instrument. Damit habe ich während der Krise auch wieder angefangen, es reichte aber recht schnell nicht mehr aus. Bass ist nicht eben ein Instrument für Solisten, nicht wahr? Unser Haus ist auch nicht gerade eine Villa, aber ein Klavier war immer schon einer meiner Träume. Ich habe mir ein E-Piano gekauft. Der Klang ist einmalig, er kommt einem echten Piano recht nah. Ich kann über Kopfhörer spielen, es hat eine gewichtete Klaviatur mit 88 Tasten. Das Spielgefühl ist nicht ganz wie bei einem echten, dafür nimmt es nicht viel Platz weg und kann auch mal hochkant in der Ecke stehen. Ich bringe mir das Spielen selber bei, besorge mir Noten und spiele am liebsten nicht- klassische Stücke von Tom Waits oder ähnliches. Mann, ich erzähle hier die ganze Zeit über mich, aber am Anfang gehört das wohl dazu. Ich lese gerade, dass du recht früh schlafen gehst, also liegst du wahrscheinlich schon in den Träumen. Für den Fall wünsche ich dir einen nicht allzu schwierigen Start in den Tag und das ein oder andere Highlight. Ich werde morgen früh aufstehen und meinen vorletzten Krankheitstag damit verbringen, mir Gedanken darüber zu machen, ob und womit ich an einem Literaturwettbewerb teilnehme. Und dann vielleicht das ein oder andere zu Papier bringen. Ich finde es auch nett mit dir und bin mir ziemlich sicher, dass du einen Weg findest.
Chris08.10.2010 22:03 Uhr
Ich danke dir für deine offenen Worte und auch für dein Bestreben mir Mut zu machen. Es ist ein angenehmes Gefühl zu wissen, dass man das alles nicht allein durchmacht.
Gute Nacht.
09.10.2010 16:09 Uhr
Hi Greta, ich komme leider erst jetzt dazu, zu antworten.
Du schreibst, dass es ein angenehmes Gefühl ist zu wissen, dass man so etwas nicht alleine durchmacht.
Ich habe während der Reha auch viele Leute kennengelernt, die mir das auch vermittelt haben. Zu vier von diesen Menschen habe ich heute noch regelmäßig Kontakt. Zweimal im Jahr treffen wir uns, ab und an mailen wir. Vielleicht lässt es dich ein wenig positiver in die Zukunft blicken, wenn ich dir erzähle, dass es heute dreien von den vieren wieder richtig gut geht. Sie haben teilweise den Job gewechselt, teils aber auch behalten und nur das ein oder andere verändert. Und alle, mich eingeschlossen, waren ganz unten. Es dauert seine Zeit, bis sich im Kopf „etwas umstellt“, und es dauert nochmal einen Moment, bis das im Leben Wirkung zeigt. Im Grunde hat sich an meiner Situation verglichen zur Zeit vor der Krise ja nicht viel geändert. Mein Sohn ist immer noch hyperaktiv, ich habe wieder einen Fulltime-Job, die finanzielle Verantwortung für das Haus liegt immer noch bei mir. Irgendwie habe ich in den letzten drei Jahren gelernt, die Dinge ruhiger anzugehen, auf meine Träume hinzuarbeiten (auch wenn die sich vielleicht nie erfüllen werden) und mir eine Einstellung zuzulegen, die mich immer wieder denken lässt, dass es schon irgendwie weitergehen wird. Mir ist Geld mittlerweile relativ egal, ich habe im vorigen Job recht gut verdient, viel besser als jetzt, aber ich habe keine Ahnung, wo dieses Geld immer geblieben ist. Und es funktioniert auch so, sich eine gewisse Lebensqualität zu erhalten. Dazu kommt bei mir eine gewisse fatalistische Sichtweise, die es mir etwas einfacher macht, Rückschläge zu verarbeiten. Von allem, was so politisch und gesellschaftlich im Großen um uns passiert, habe ich mich weitgehend verabschiedet. Die Welt ist halt so dämlich, und manchmal hilft ein wenig Zynismus und ein kopfschüttelndes Lachen, um diese Gegebenheit hinwegzufegen. Über den Auslöser für dein derzeitiges Befinden wage ich kaum zu fragen, ich denke, das ist eine sehr persönliche Geschichte. Ich weiß, dass solch eine Enttäuschung manchmal schon alleine ausreicht, das Leben vollkommen aus dem Gleichgewicht zu bringen. Vielleicht magst du irgendwann darüber reden. Bis später, Chris
09.10.2010 16:41 Uhr
Mir ist Geld auch nicht so wichtig. Das sagt sich natürlich leichter, wenn man welches hat. Aber ich habe seit dem Sommer meine Sprechzeiten reduziert, um mehr Zeit für mich und meine Regeneration zu haben. Das habe ich bislang auch nicht bereut. Ich habe auch aufgehört, mich mit meinen gesunden Kollegen zu vergleichen. Die sind noch dazu männlich und haben ein fleißiges Frauchen zu Hause. Klar dass die beruflich härter knüppeln können. Was soll’s, ich brauche keinen Porsche. Um ehrlich zu sein, ich habe zurzeit noch nicht einmal einen Führerschein. Am schwärzesten Tag meines Lebens im Sommer habe ich mich mit Alkohol zugedröhnt und bin -sehr schlau- gefahren. Bin nicht sehr weit gekommen. Zwei freundliche Polizisten haben mir völlig zurecht, den Lappen abgenommen. Schöne Scheiße. Acht Monate und eine empfindlich hohe Geldbuße. Falls du mir trotzdem noch schreiben magst, würde es mich freuen. Und irgendwann erzähle ich Dir den Rest, wenn’s dich noch interessiert.
Ich finde es toll, dass du dich aus der Krise so befreit hast. Das macht mir Mut.VG Greta
09.10.2010 18:31 Uhr
Mein Gott, wenn ich für alles, was ich im zugedröhnten Zustand mal angestellt habe, einen Euro bekommen hätte, wäre ich jetzt wohl reich. Habe während des Studiums in der Kneipe eines Kulturzentrums gearbeitet. Das war nur zwei Kilometer von meiner Wohnung entfernt, aber ich musste ja noch völlig breit den Wagen bewegen. Bin dann zu den Jungs von der Streife noch ein wenig frech geworden, sodass ich mich mit ausgebreiteten Armen und einem fremden Ellenbogen im Rücken auf der Motorhaube wiederfand. Ich war den Schein ziemlich lange los und durfte dann zum Idiotentest. Keine bereichernde Erfahrung.
Natürlich interessiert mich der Rest von dir und deiner Geschichte. Bisher habe ja ich das meiste erzählt. Bin gespannt, wenn DU loslegst.
So, das übliche Procedere: Abendessen, Kind ins Bett bringen.
Bis später, Chris10.10.2010 02:43 Uhr
Es gibt noch mehr, was ich verheimlicht habe.
Ich erdrücke Menschen durch mein nicht vorhandenes
Selbstbewusstsein und den daraus resultierenden ständig von mir geforderten Sympathienachweis. Also sei vorsichtig mit mir, ich scheine ein abartiges Wesen zu sein. Janne10.10.2010 10:48 Uhr
Guten Morgen!
Ich glaube nicht, dass dein Wesen so abartig ist (abartig – was für ein gefährliches Wort). Wenn einem im Leben alles um die Ohren fliegt, dann sucht man sich doch jemanden, an dem man sich festhalten kann und sich die Bestätigung und Wärme holen kann, die man in dieser Situation dringend braucht. Was ist daran so ungewöhnlich?
Ich war zu Beginn des Jahres äußerst heftig verliebt. Es war eher das Gegenteil von deiner Geschichte. Wir haben die Nächte durchgequatscht und durchgetrunken, haben uns vorsichtig angenähert, sind aber seltsamerweise nicht im Bett gelandet. Aber es war heftig. Wenn wir uns berührten, und sei es nur eine flüchtige Hand freundschaftlich auf der Schulter, dann sah man Regenbögen und Funken sprühen.
Ich war so weit, mich mit ihr einzulassen, hatte sogar meiner Frau von Birgit erzählt. Warum, weiß ich auch nicht. Vielleicht noch eine Art alte Verbundenheit und Respekt.
Birgit ist dann zu ihrem Ex zurück. Mir ist der Grund nicht ganz klar, sie konnte ihn mir selber nicht sagen. Die Funken sprühen immer noch auf beiden Seiten, wenn wir uns sehen, ihr Freund ist äußerst angespannt, und die Beziehung der beiden wird nicht mehr lange halten, vermute ich. Aber unsere Chance ist vorbei.
Und nochmal zum abartigen Wesen (ist das nicht ein Ausdruck aus der Medizin des Mittelalters?: in mir gibt es etwas unwahrscheinlich Destruktives, und wenn das die Oberhand gewinnt wird es gefährlich. Nachdem Birgit mir eröffnet hatte, dass es mit uns nichts wird, brannte ich mir eine CD mit all den netten heftigen Sachen, auf die ich mit aller Vehemenz anspringe – Garbage, The Doors, Guns n‘ Roses und das ganze wunderbare Zeug. Habe mir dann ständig diese CD angehört und mich richtig schön in diese Geschichte hineingesteigert.
Andererseits war diese Zeit des totalen Verliebtseins eine Offenbarung. Mir war nicht klar, dass ich derartige Gefühle noch entwickeln kann. Ich fühlte mich wie ein Teenager, war euphorisch, inspiriert, voller Energie. Es war eine wichtige Erfahrung, und es ist vorbei.
Dem Familienleben eine neue Sichtweise abzugewinnen, wie du schreibst, kann helfen, denke ich. Solange wir unsere Erwartungen daran nicht zu hoch schrauben, ist das wohl möglich. Eine gute Idee. Ein Schritt. Es ist wohl doch noch eine gewisse Dynamik in dir. Das ist gut.
Danke für die Warnung. So schnell fühle ich mich nicht erdrückt. Und was die Sympathienachweise angeht, hier kommt einer: Du scheinst ein Mensch fernab des Mainstreams zu sein, auch wenn du das vielleicht ein bisschen aus den Augen verloren hast. Und das mag ich.
Chris10.10.2010 12:38 Uhr
Lieber Christian,
ich habe es bis vor Kurzem auch so empfunden, dass es relativ normal ist, dass man Jemanden sucht, um sich festzuhalten, wenn einem das Leben um die Ohren fliegt. Leider teilen diese Ansicht nicht alle Menschen und leider besitze ich nicht die Gabe, die „Guten“ von den „Bösen“ zu unterscheiden.
Deine Liebesgeschichte klingt traurig und schön zu gleich. Die positiven Emotionen, die einem zeigen, dass man doch noch lebt. Schön. Die Trauer, die bestimmt schmerzhaft war, zeigt zwar auch, dass man noch lebt und auch noch nicht völlig abgestumpft ist, sind aber Gefühle, auf die ich liebend gerne verzichten würde. Ich versenke mich dann auch immer ganz tief in die Trauer. Musik, Lesen alter Briefe, Schwelgen in Erinnerungen. Auch meine Art des Abschiedsnehmens. Und es dauert einfach seine Zeit. Machst Du Dir noch Hoffnungen? (Weil Du schreibst, die Funken sprühen noch und ihre Beziehung mache keinen stabilen Eindruck).
Für Deine letzten Worte danke ich Dir besonders. Ich freue mich darüber, will aber versuchen, nicht daran zu klammern, sonst verschrecke ich den nächsten Menschen. Bin einfach scheiße verunsichert, tut mir sehr leid.
Liebe Grüße und Danke noch einmal für Dein Verständnis und Mitgefühl. Tat gut. G.10.10.2010 14:56 Uhr
Es gibt hier in der Nähe ein kleines Restaurant, wo sich am Wochenende diejenigen aus dem Ortsteil treffen, die nicht mehr auf den Bäumen leben. Birgit treibt sich dort auch immer herum. Es ist verführerisch, dass ich am Abend nur zwei Kilometer gehen müsste, um sie dort anzutreffen und einen dieser magischen Momente zu erleben. Aber ich gehe auf Distanz. Es kostet zu viel Kraft, mich ab und zu mit ihr zu treffen, das alles aufzufrischen, nur um sie dann wieder aus meinem Blickfeld zu verbannen. Ich merke auch, dass jetzt, wo ich dir darüber schreibe, noch etwas ist, aber dieses Etwas wandelt sich langsam in eine gemischt positiv/negative Erinnerung, und das ist o.k. so. Ich glaube, es geht hier tatsächlich nur um Zeit, die verstreichen muss. In dieser Zeit gibt es bessere und verdammt beschissene Tage, aber langsam, wenn aus dem unerträglichen Schmerz Trauer wird, aus der Trauer vielleicht Wut oder Melancholie und daraus letztendlich Erinnerung, gibt es einen Trend nach oben. Die Amplitude wird sozusagen kleiner, wie bei Nachbeben.
In irgendeinem Ratgeber gegen Schreibblockaden habe ich mal den Tipp gelesen, man solle sich jeden Morgen hinsetzen, noch bevor einem der Tag diverse Stempel aufdrückt, und drei Seiten schreiben. Egal was, egal in welcher Form, einfach aufschreiben, was einem gerade durch den Kopf geht, und wenn es Kuchenrezepte sind. Gut, aus zeitlichen Gründen hat das bei mir am Morgen nicht geklappt. Ich habe das ein halbes Jahr lang am Abend getan, und es war wie ein Quantensprung. Es hilft, sich über viele Dinge klar zu werden. Und in dem Moment, in dem sie auf dem Papier oder auf dem Bildschirm stehen, verlieren sie oft ihren Schrecken und ihre Macht. Vielleicht versuchst du es, wenn du nachts wach liegst.
Du wirst mich nicht so leicht verschrecken, mach dir darüber keine Sorgen. Denk daran, dass ich selber in einer ähnlichen Situation gesteckt habe und halbwegs nachvollziehen kann, was dich bewegt, auch wenn sich das jetzt vielleicht überheblich anhört.
Mein eigenes Leben kommt mir zeitweise auch noch sehr fragil vor, aber ich denke, ich kann wieder eine ganze Menge ab, und wenn es darum geht, von dir etwas abzufangen, dann nur zu.
So, das war nach sechs Wochen mein letzter Krankheitstag. Montag geht der Trott wieder los. Eigentlich gehe ich Freitag abends immer weg, ich muss dann einfach raus, brauche zwei oder drei Stunden für mich und quatsche dann den Rest der Nacht mit Freunden. Heute werde ich mir wohl zwei Flaschen korsischen Wein besorgen, am Rechner Musik hören und das ein oder andere schreiben. Wenn dir also heute Abend noch etwas auf der Seele brennt, dann werde es los. Und wenn irgendwann später eine etwas seltsame Mail bei dir ankommt, dann liegt es wohl an dem korsischen Wein. Ich werde bei Wein zwar kreativ, aber manchmal auch ziemlich pathetisch und anhänglich. Also nicht wundern…
Ich wünsche dir einen angenehmen Rest des Tages.
Chris10.10.2010 15:33 Uhr
Sehr angenehm war es bis gerade nicht. Ich hatte ein unangenehmes Gespräch mit einem ärztlichen Kollegen, der eine herbe Profilneurose hat. Ich kann also noch etwas Schönes heute gebrauchen und hoffe auf einen gemeinsamen Abend mit Dir. Ich werde mich mit Laptop und Buch nach oben begeben.
LG G.
10.10.2010 21:07 Uhr
So, nun kann der nette Teil des Abends starten.
Ich habe eher selten den Hang, mich profilieren zu müssen. Eine wirkliche Profilneurose ist es wohl nicht. Mir ist klar, dass ich in einigen Dingen ganz gut bin und in anderen absolut unfähig oder unwissend. Macht mir nichts aus, das Einzige, was nervt, ist dieser Hang zum Perfektionismus bei den Sachen, die mir liegen. Das hat wohl mit der Forderung nach Anerkennung zu tun, vielleicht auch mit dem Bedürfnis, mich von der Masse abzuheben. Ich stehe mir in solchen Augenblicken selber im Wege und das ärgert mich. Einige Dinge fange ich aus diesem Grunde gar nicht erst an. Ich denke nicht, dass es pathologisch ist.
Gefährlich ist, dass solch geltungssüchtige Menschen ein bemerkenswertes Geschick entwickeln, wenn es darum geht, andere für ihre Bedürfnisse und Zwecke zu missbrauchen. Und ich glaube, noch gefährlicher ist es, wozu sie fähig sind, wenn sie dieser Menschen überdrüssig werden. Dann können sie auch ein nur leicht angeschlagenes Ego in Grund und Boden stampfen, und das mit erstaunlicher Boshaftigkeit. Ich kenne solch eine Person, sie hat mich zur Welt gebracht.Und trotzdem trinke ich jetzt auf sie. Und auf Dich.
In diesem Sinne: Cheers!
Chris.
10.10. 2010 22:46 Uhr
Lass es dir gut munden!
Ja, dieser Hang zum Perfektionismus kommt mir doch sehr bekannt vor. Geht mir nicht viel anders. Es hängt bestimmt mit dem Bedürfnis nach Anerkennung zusammen. Das hat ja wahrscheinlich jeder, aber bei mir ist es auch zu stark ausgebildet. Aber es ist auch Folge unserer Leistungsgesellschaft. Wenn ich sehe, was von den Kindern in der Grundschule verlangt wird, und welcher Druck da schon auf den Kindern lastet, ist es kein Wunder, das man nach Anerkennung strebt.
Das klingt nach einem gespaltenen Verhältnis zu Deiner Mutter? Und wenn sie tatsächlich so ein perfektionistischer Mensch ist, ist es auch kein Wunder, dass Du übersteigert nach Anerkennung suchst. Als Kinder wollen wir schließlich unseren Müttern gefallen.10.10.2010 23:22 Uhr
Paul wurde im Sommer eingeschult, es ist ein Wahnsinn, was den Kids abverlangt wird. Da wir beide arbeiten, ist er bis 16 Uhr im Offenen Ganztag. Danach noch eine halbe Stunde Hausaufgaben, und das in der ersten Klasse. Auch wenn es jetzt noch sehr früh ist darüber nachzudenken, aber ich werde ihn definitiv nicht durch das Turbo-Abi jagen. Mein Gott, wir kamen damals von der Schule mittags nach Hause, kurz essen, kurz Hausaufgaben, und dann ab zum Spielen mit den anderen.
Er bekam bereits im Alter von zwei Jahren die Diagnose ADHS. Man kann dazu stehen, wie man will, ich habe mich viel mit der Thematik befasst, habe mir für mich selber die Diagnose bei einem Spezialisten in Hannover abgeholt, nur so aus Interesse, und um meine Vergangenheit etwas besser zu verstehen. Auf alle Fälle ist es schwer für ihn, im Unterricht lange still zu sitzen und einem Frontalunterricht zu folgen. Mal sehen, was wird. Letztendlich ist aus mir ja auch ein höchst erfolgreiches Genie geworden
Meine Eltern sind ein Fall für sich, alle beide. Sie leben beide noch, sind schon lange geschieden, wohnen ganz in der Nähe. Wenn dir irgendwann mal langweilig ist und du ganz viel Zeit für triviales Zeugs hast, erzähle ich die ein oder andere Story. Hauptsache ist, dass sie mir das Leben heute nicht mehr zur Hölle machen können. Ich habe meinen Umgang mit ihnen gefunden, kann mich einigermaßen abgrenzen und bin ihnen keine Rechenschaft schuldig, wie ich mein Leben gestalte.
Natürlich bin ich nicht das erfolgreiche Genie geworden, dass mir so als Bild von mir vorschwebt. So viele verpasste Chancen, so viele falsche Entscheidungen, viel zu wenig auf mich, auf mein Herz gehört. Und trotz aller Unzufriedenheit durch nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten komme ich auf eine seltsame Art meistens mit diesem Leben und seinen Eigenarten klar. Ich hoffe sehr für dich, dass du das demnächst von dir auch wieder behaupten kannst.
Guck, es geht schon los mit dem Pathos. Wow, der erste Alkohol nach sechs Wochen. Wenn die erste Flasche leer ist, spürst du, wie ich fliege.Chris.
10.10.2010 23:43 Uhr
Meine Eltern und ich haben auch ein schwieriges Verhältnis. Ich bin Einzelkind und sie haben es nie geschafft zu akzeptieren, dass ich ein eigenes Leben habe. Sie sind für mich eher erdrückend. Sie sind auch der Grund, warum ich nie nach Norddeutschland zurück ging, obwohl ich eigentlich Heimweh nach der norddeutschen Tiefebene habe. Aber die räumliche Distanz ist für mich ganz unbedingt notwendig. Ich erzähle ihnen so gut wie nichts von mir. Wenn wir telefonieren reden meist sie, mein Vater über so wichtige Dinge wie die Regenstandsmessungen, meine Mutter über irgendwelche Krankheiten im Bekanntenkreis. Wie es mir geht, fragen sie nie, obwohl sie wissen, dass ich krank bin. Sie haben wohl zu viel Angst vor der Wahrheit.
Meine Mutter hat selbst aber meines Erachtens auch eine Depression, nicht erkannt, war immer traurig. Und mein „Job“ war es, sie glücklich zu machen und ihr zu gefallen. Ein Mechanismus, der hoffentlich meine Tochter nicht ereilt.
Ich glaube, wenn ich freier aufgewachsen wäre und gelernt hätte, für mich selbst Entscheidungen zu treffen, hätte ich vieles anders gemacht. So wie Du schreibst, vielleicht mehr auf mein Herz hören können. Jetzt ist es zu spät, es gibt kein Zurück mehr, eine der schlimmsten Erkenntnisse zurzeit für mich.
ADHS macht das Leben bestimmt nicht leichter. Wie kann man da Deinem Sohn helfen? Ich habe davon nicht viel Ahnung. Erzähl ruhig mal, interessiert mich. Grundsätzlich finde ich es auch schlimm, dass unseren Kindern schon so viel abverlangt wird. Jette ist auch jeden Tag bis 16:OO Uhr in der Schule, dankenswerterweise sind dann aber die Hausaufgaben schon gemacht. Das Kind kommt sozusagen gefüttert, gewässert und gebildet zurück. Wir haben nicht mehr viel zu tun (ist natürlich Quatsch). Alles in allem auch mit meiner Kindheit kein Vergleich. Ich hatte viel mehr Zeit zum Spielen. Das ist bei den heutigen Kindern echt ganz anders. Ob es was bringt? Ob sie dadurch ihre Zukunft anders gestalten?VG Greta
11.10.2010 00:08 Uhr
Ich fasse es kaum! Wie viele Parallelen tun sich wohl noch auf? Es ist fast ein wenig gespenstisch. Ich lebe zwar unmittelbar vor Beginn der Norddeutschen Tiefebene, aber einer meiner Träume führt mich weiter nach Norden, an die Küste. Woher im Norden kommst du?
Ich habe auch viel zu lange auf meine Eltern gehört, aber es mir heute ein wenig zu einfach, sie für alles verantwortlich zu machen.
Du sagst, es sei für dich zu spät, sich für etwas anderes zu entscheiden. Glaubst du das wirklich? Vielleicht kommt es dir jetzt so vor. Wenn ich in diesen verdammten letzten drei Jahren eins gelernt habe, dann ist es, dass ich ein freier Mensch bin. Ja, ich habe auch Verantwortung für ein Kind, und die werde ich immer wahrnehmen, aber ich habe auch ein eigenes Leben, und wenn ich entscheide, dass ab morgen früh ganz anders, ohne meine Frau, mein Haus, meinen wunderbaren Rückzugsraum zu verbringen, dann wird mich niemand daran hindern.
Es ist schwer, und es hört sich fürchterlich altklug und besserwisserisch an, aber träume! Schmeiß Konventionen über Bord, denke an dich, es gibt tatsächlich immer eine Alternative. In unserem Alter ist noch lange nicht alles gelaufen.
Was wärst du gerne geworden? Was würde dir heute Spaß machen?
Chris.11.10.2010 00:31 Uhr
Ich komme gebürtig aus einer kleinen Stadt zwischen Bremen und Oldenburg.
Ich würde gerne aber noch weiter gen Norden ziehen, wenn ich könnte. An die See. Ist fast egal ob Nord- oder Ostsee. Mein Traumhaus liegt in Wassernähe, am besten direkt am Wasser, damit ich einfach im Bademantel an den Strand gehen und möglichst oft in die Fluten springen kann. Damit ich im Haus das Meeresrauschen hören kann. Damit ich durch die Fenster die Weite des Meeres genießen kann. Mein Traum von Freiheit…
Weitere Wünsche und Träume zu realisieren fällt mir mittlerweile gar nicht mehr so leicht. Vor lauter beruflichen und privaten Anforderungen habe ich wohl, meine Wünsche aus den Augen verloren. Ich kann recht klar benennen, was ich nicht will. Aber was ich stattdessen
will?? Haus am Meer, schreiben, tja und dann die für mich große Frage: mit oder ohne Familie? Ich würde am liebsten alles (außer meiner Tochter) hinter mir lassen. Aber während ich das schreibe, verbiete ich mir fast gleichzeitig darüber nachzudenken. Ich sag ja, Sackgasse.
Bist du bei deinen Träumen angekommen?Greta
11.10.2010 00:48 Uhr
Ich bin bei meinen Träumen noch lange nicht angekommen. Was mich gerade wundert, ist, dass wir im Grunde mit unseren Zielen nicht weit voneinander entfernt sind. Ja, ich möchte auch mein Haus in der Nähe der Nordsee, ich möchte auch meinen Sohn mitnehmen, könnte auch den Rest hinter mir lassen, möchte schreiben oder sonst etwas machen, was mich erfüllt. Ich bin wie du ganz weit davon entfernt, aber ich betrachte es nicht als Sackgasse und ich verbiete mir nicht das Nachdenken darüber, im Gegenteil. Ich führe es mir immer wieder vor Augen und sage mir, dass die Zeit dafür noch nicht gekommen ist, aber kommen wird.
Hm, die Kardinalfrage ist für mich, warum wir bei ähnlichen Träumen und einem ähnlichen Ist- Zustand unsere Situation so unterschiedlich beurteilen und wie sich das bei dir vielleicht ins Positivere verändern lässt. Warst du mal ein optimistischer Mensch?Chris.
11.10.2010 00:57 UhrMir wurde in der Kindheit immer wieder der Satz gesagt: Vögel, die morgens pfeifen, holt abends die Katze“. Kann man da optimistisch werden?
Aber mein Pessimismus ist nicht immer so schlimm. Im Winter geht’s mir immer kratzig, da verliere ich schnell meinen Lebensmut und meine Lebenslust. Zum Frühling hin wird es dann deutlich besser und im Sommer blühe ich richtig auf. Ich setze mich deshalb im Winter auch immer vor eine Lichttherapie- Lampe. Auch wenn es nicht die Sonne ist, so hilft es doch.
Wir scheinen echt viele Parallelen zu haben. Schönes Gefühl, sich in einem anderen Menschen wieder zu finden.
Teilt Deine Frau Deine Träume?Greta
11.10.2010 01:10 Uhr
Nein, meine Frau sagt ganz klar, dass sie sich hier nicht wegbewegen wird. Sie ist Anfang ’90 aus den Neuen Bundesländern hier nach Oeynhausen gekommen, sie weiß selber nicht, warum sie sich damals auf solch ein Abenteuer eingelassen hat.
Wenn ich auch nur einen Teil meiner Träume verwirklichen will, und das werde ich, dann ist meine Frau nicht Teil dieser Träume. Es tut schon weh, dass so geschrieben zu sehen, andererseits begleiten mich diese Träume nun schon so lange, dass ich es mir tatsächlich vorstellen kann.
Wie geht es dir jetzt gerade?Chris
11.10.2010 01:19 Uhr
Man denkt so oft über eine Trennung nach, aber aufgeschrieben, bekommt es doch noch einmal eine andere Dimension. Geht mir auch so.
Witzig, dass du gerade fragst, wie es mir geht, denn ich habe gerade in mich reingehört. Hast du wohl gespürt…
Es geht mir gut. Nahezu unfassbar gut. Keine innere Unruhe, wohlige Müdigkeit, kein Brennen hinter dem Brustbein. Unfassbar.11.10.2010 01:36 Uhr
Wie schön. Sollen wir den gemeinsamen Abend so langsam beenden? Die Gläser wegräumen, das Kaminfeuer runterbrennen lassen, in den nächsten Tagen immer mal wieder weiterschreiben? Scheint uns beiden gut zu tun.
Es ist schön, dich gefunden zu haben. Und mach dir bitte keine Sorgen über eine neue Enttäuschung. Ich bin alles Mögliche und alles Mögliche nicht, aber ich glaube, ich bin zumindest authentisch.
Chris.
11.10.2010 01:44 UhrJa, ich bin auch müde. Es war wirklich sehr schön mit Dir. Ich danke dir. Ich würde Dir gerne auch In Zukunft schreiben.
Schlaf schön, gute Nacht und süße Träume, Greta.
11.10.2010 01:47 Uhr
Ich wünsche dir auch eine gute Nacht und gute Träume.
Bis morgen, wenn du magst.
Chris.11.10.2010 09:41 Uhr
Guten Morgen,
Schon ausgeschlafen?
Was so ein netter Abend alles bewirken kann… ich bin ohne Herzrasen und innerer Unruhe aufgewacht (nur ein bisschen Kopfweh, aber das ist nichts gegen das andere). Das Ego windet und suhlt sich noch im Dreck, aber es ist beherrschbar (es wird schon irgendwann aus dem Drecksloch heraus kriechen). Will sagen: ich fand es richtig schön. Schöne gleiche Wellenlänge.Ich werde heute viel am PC arbeiten müssen und gucke dann immer mal in mein Postfach…
Lg11.10.2010 11:29 Uhr
Guten Morgen,
ist bei dir mit einem Kind in diesem Alter auch die Nacht so früh vorbei? Schön, dass es dir so gut geht. Ich hatte schon ein schlechtes Gewissen, dass ich dich gestern so zugetextet habe und dachte, ich hätte mich zu offensiv in den Vordergrund gespielt.
Ja, ich liebe das mit der gleichen Wellenlänge! Ich habe schon Menschen kennengelernt, mit denen es relativ viele Gemeinsamkeiten gab, aber das hier ist schon enorm. Ich bin, wie soll es anders sein, übrigens auch Einzelkind
So, bis zum Mittagessen nimmt mich mein Sohn in Beschlag, danach bin ich auch für eine Stunde am Rechner.
Bis später,Chris
11.10.2010 12:59 UhrJa, ja, ich sollte arbeiten. Habe aber keine Lust. Ich habe eine Frage: Du schriebst, dass Du nach Noten von Tom Waits spielst. Kannst Du mir was empfehlen? So ein Klavier wie Du hast, habe ich nämlich auch (welch Wunder…). Hätte gerne einen Tipp, darf aber nicht zu schwer sein, bin aus der Übung.
LG11.10.2010 13:34 Uhr
Ich sehe gleich mal nach, wenn mein Sohn in meinem Schlafzimmer, Musikraum und Büro und jetzt auch Spielzimmer mit seiner Carrera- Bahn fertig ist. Die schönsten Stücke von Tom Waits sind sauschwer zu spielen, in irgendeiner völlig abgedrehten Tonart und mit verrückten Oktav- und None-Griffen. Ich hoffe, du hast lange Finger.
Aber zwei oder drei Sachen, die toll klingen, sind nicht allzu schwer. Und ich bin Anfänger am Klavier, du nur aus der Übung!
Ich schicke dir nachher die Noten rüber. Frau und Kind sind ab drei Uhr aus dem Haus, dann habe ich sturmfreie Bude.
Also heute geht mir das Wetter auch auf die Nerven. Normalerweise macht es mir nichts aus, wenn wir erstmal mitten im Winter stecken. Die Zeit, die ich hasse und zu der ich total melancholisch werde, ist das Ende des Sommers. Wenn ich weiß, dass es die letzten Abende sind, an denen ich auf der Terrasse sitzen kann, und die gemütlichen kleinen Open Air Konzerte in der City auslaufen, könnte ich manchmal eine oder zwei Wochen lang am Rad drehen.
Bis später,
Chris11.10.2010 15:49 Uhr
Also ich schicke dir mal das komplette Songbook von Tom Waits rüber. Angefangen habe ich mit dem wohl bekanntesten Stück: Tom Traubert’s Blues.
Man braucht noch eine Flasche schottischen Single Malt und zwei Schachteln filterlose Zigaretten, um die Gesangsstimme hinzukriegen, aber dann macht es irre Spaß.
Wenn du die Songs selber als mp3 brauchst, kann ich dir alle, die du brauchst, nacheinander rüberschicken.11.10.2010 16:58 Uhr
Also, wenn du Anfänger bist, dann habe ich nie Klavierspielen gelernt. Ich finde es ganz schön schwer. Da brauche ich Jahre bis ich das hinkriege.
G.11.10.2010 17:19 Uhr
Ich kann die Stücke natürlich weder so vom Blatt abspielen noch komplett auswendig. So nach und nach nehme ich immer ein paar Takte dazu. Im Schnitt spiele ich seit zwei Jahren täglich eine Stunde. Ich brauche also auch Jahre. Aber es macht Spaß.
11.10.2010 19:03 Uhr
Da brauchst Du aber auch ein gutes Zeitmanagement: Klavier, Crosstrainer, Sohn, Beruf … und dann noch e- Mails an Greta. Ich sitze auf dem Rad und versuche meiner wieder aufkeimenden inneren Unruhe davon zu radeln.
Liebe Grüße und bis später.11.10.2010 19:10 Uhr
Ich nehme einige andere Sachen nicht so wichtig, ich wasche mein Auto nicht, ich sitze selten vor der Kiste, ich wasche und dusche mich nicht und putze grundsätzlich nicht die Zähne (das sollte ein Witz sein!)
Für Mails an Greta bleibt also viel Zeit. Alles eine Frage der Prioritäten.
Mal sehen, was hier heute Abend noch so anliegt. Ab und zu schmeiße ich wohl mal den Laptop an, wenn es mich beißt. Mal sehen, ein bisschen Sport ist auch keine schlechte Idee.
Ich würde jetzt am liebsten für eine Woche nach Dänemark fahren und mir vom Seewind den Kopf freipusten lassen. Aber das muss noch ein wenig warten.
Bis später,
Chris
11.10.10 19:31 UhrNimmst du mich mit? Ich könnte auch Seewind gebrauchen. Dort ist es zu jeder Jahreszeit schön. Ein kleines Haus in den Dünen, lange Spaziergänge am Meer entlang, zusammen kochen und abends am Kamin sitzen. Klingt traumhaft gut, oder?
11.10.2010 20:32 Uhr
Das klingt ganz großartig. Wenn ich mir vorstelle, bei einem guten Gespräch diese ewig langen Strände entlang zu gehen und dann durchgefroren den Ofen anzufeuern, kochen, essen, und dann mit gutem Wein einen langen Abend zu verbringen, das wäre schon was. Habe die Bilder regelrecht vor Augen. Wir kennen uns noch keine Woche, aber ich würde dich sofort mitnehmen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Stress gäbe. Wer weiß, vielleicht kriegen wir das ja tatsächlich irgendwann mal hin. Keine Ahnung, wie, aber es lohnt sich, darüber nachzudenken.
11.10.2010 21:16 Uhr
Und im Sommer fahren wir wieder hin. Rennen Hand in Hand ins Wasser, sammeln Muscheln, genießen die Sonnenuntergänge und schlafen unter dem freien Sternenhimmel. Das Leben könnte so schön sein…
11.10.2010 21:45 Uhr
Oh Mann, diese Szenerie mit dir im Sommer, das mag ich mir gar nicht vorstellen! Diesen Kontrast zum Hier und Jetzt vermag mein Verstand gar nicht zu verarbeiten.
Im Mai oder Juni fahre ich vorab allein oder mit Paul (hat sich natürlich mit der Schule nun erledigt) immer eine Woche gen Norden. Das Ritual ist immer gleich: abends werden die Sachen ins Auto geladen und am Morgen, unmittelbar vor der Abfahrt, kommt einmal Chris Rea in den CD-Player – On the Beach. Ein Stück die A2 nach Nordosten, bereits dort sagt Paul, er könne das Meer schon riechen. Dann die A7 hoch mit Rast in Allertal, hinter Hamburg die Küstenstraße über Heide und Husum. Dann raus aus diesem Land. Sobald ich das erste Mal die rote Fahne mit dem weißen Kreuz sehe, fällt alles von mir ab.
Eine ganze Woche im nächsten Frühling werde ich wohl keinen Urlaub bekommen. Aber du bist herzlich eingeladen, ein verlängertes Wochenende mit mir irgendwo an der Küste zu verbringen. Sollte uns zum Auftanken reichen und wir können zusammen den Sommer einläuten.Lass uns das nicht aus den Augen verlieren!
11.10.2010 22:03 Uhr
Auf keinen Fall. Schlaf schön!
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Die goldenen zwanziger Jahre
Henriette 1920 – 1930
Henriette war eine passable Schülerin, der vor allem der Geographie- und Mathematikunterricht gefielen. Im hohen Alter, als die Schritte ihr schwerer fallen und die Sehkraft nachlässt, wird sie oft in ihrem Wohnzimmer stundenlang mit einer Lupe über ihrem Atlas gebeugt sitzen und so die Welt erkunden.
Ihre Schulzeit endete mit dem Volksschulabschluss. Anschließend machte sie eine kaufmännische Ausbildung, die sie aber nicht abschloss. Sie übernahm stattdessen die Buchhaltung in der Möbelfabrik ihres Vaters.
Die erhaltenen Fotografien zeigen nun eine richtige Schönheit mit klarem, reinem Gesicht und schlanker, zierlicher Gestalt.
Auch ein Familienfoto ist erhalten. Ernst und Charlotte, nun beide fülliger, die Gesichter gealtert. Henriette mit eleganter, gewellter Frisur. Ganz so, wie es damals in Berlin Mode war. Sie trägt ein ärmelloses Kleid, wieder weiß, im Ausschnitt eine Perlenkette. Die Sitzposition elegant, die Hände gefaltet. Eine junge Frau, die im Berlin der zwanziger Jahren lebt.Charlottes Aufmerksamkeit konzentrierte sich weiter darauf, dass Henriette eine sittsame und ordentliche junge Frau wurde, die gebildet und fein anzusehen in die Gesellschaft eingeführt werden konnte.
Deutschland übte sich in dieser Zeit erstmals in Demokratie. Die junge Republik wurde gebeutelt von den harten Reparationszahlungen, ungerecht empfundenen Gebietsverlusten und zunehmender Geldentwertung. Das Straßenbild war gezeichnet von verkrüppelten Kriegs- Heimkehrern, lebensunfähigen Kriegs- Zitterern und verarmten Bettlern. Das Volk gab der Demokratie die Schuld, die zahlreiche Umsturzversuche abwehren musste. Damals war noch nichts gold.
Erst in der zweiten Hälfte des Jahrzehntes wurde es durch die Einführung der Rentenmark, den Dawes- und Young- Plan stabiler und die Wirtschaft konnte sich leicht erholen. Auch außenpolitisch wurde es für die erste deutsche Republik ruhiger, die 1926 sogar dem Völkerbund beitrat.
Nun begann die Zeit der goldenen zwanziger Jahre. Kunst und Kultur gewannen Auftrieb, Lichtspielhäuser und Varietés schossen aus dm Boden und die Gesellschaft feierte das Leben. Nach den vielen entbehrungsreichen Jahren konnte man das Leben endlich wieder genießen. Zumindest diejenigen, die es sich leisten konnten.
Das Möbelhaus Höhler war trotz aller Schwierigkeiten gut durch die Zeit gekommen. Zumindest so gut, dass sie den Lebensstandard halten konnten. Henriette erhielt Klavier- und Ballet- Unterricht, ging zur Tanzschule und wurde zu ersten Abendgesellschaften mitgenommen.
Mit siebzehn Jahren verliebte sie sich zum ersten Mal. Ihre Eltern waren mit der Familie D. eng befreundet. Oft brachten sie ihre Kinder, Lisa und Friedrich, mit. Friedrich, genannt Fritze, arbeitete als Journalist bei der Deutschen Allgemeinen Zeitung in Berlin. Er war ein großer schlanker Mann. Seine dunklen Haare trug er mit Pomade aus der Stirn gekämmt. Seine Nase war fast etwas zu groß für sein Gesicht. Er war ein heiterer, lebensfroher Mensch, immer mit einem Lachen im Gesicht. Ganz anders seine Schwestern Lisa. Ein feingliedriges Mädchen mit ebenso feinen, blonden Locken mit einem leichten Rotschimmer. Fast feenartig. Ihr Gesicht, rein und klar, war von einer nahezu ständig vorhandenen Melancholie überschattet. Und doch konnte sie herzlich lachen. Vor allem, wenn ihr Bruder sie neckte, was er ständig tat. Dann schmiegte sich sich an ihn und für kurze Zeit strahlte ihr Gesicht. Ihr Bruder konnte die Melancholie auf ihrem Gesicht für einige Momente einfach wegwischen.
Henriettes Gefühle für Friedrich entfachten einfach dadurch, dass sie den Umgang der beiden Geschwister beobachtete. Sie war angetan, von dem liebevollem Umgang der beiden Geschwister miteinander, hatte als Einzelkind eine solche Nähe zwischen Menschen fernab von den Eltern noch nie kennengelernt. Irgendwann fing sie an, sich vorzustellen, sie schmiege sich an Friedrich nach einem seiner Scherze und er würde nicht Lisas Haare, die beim Lachen ins Gesicht gefallen waren, sondern ihre hinter ihre Ohren legen. Mit solchen Gedanken versüßte sie sich ihre Gedanken zum Einschlafen und hoffte darauf, von ihm zu träumen, was viel zu selten der Fall war.
Ein paar Mal unternahmen die drei etwas zusammen. Sie fuhren mit einem der Schiffe über den Wannsee, trafen sich zum Kaffee im Tennisclub oder gingen gemeinsam mit den Eltern abends ins Theater. Wann immer sich die Arme von Henriette und Fritze zufällig berührten, schlug Henriette das Herz bis in den Hals. Irgendwann wurden die Berührungen häufiger, die Blicke intensiver. Aber dabei blieb es auch. Doch ihre Wege sollten sich noch häufiger kreuzen.