Ent- Bindung

Greta 2003

Roman Wintersonnenwende - Ent- Bindung

Jette wurde im März 2003 geboren. Morgens war ich noch in der Stadt und wunderte mich, dass mir der kleinste Weg so schwer fiel. Wieder zuhause, setzten gegen zwölf Uhr die Wehen ein. Es dauerte ein bisschen, bis ich begriff, dass es nun endlich los ging. Jette trat ihre Reise in unsere Welt an. Ich machte mir den Kamin an und wehte vor mich hin. Wie durch ein Wunder kam Sebastian früher nach Hause, er hatte wohl das richtige Gefühl. Wir duschten noch und fuhren gegen 19 Uhr in die Klinik los. Dort angekommen, hatten Jette und ich schon gute Arbeit geleistet und alles sah gut aus. Im Kreissaal war ich froh, dass Sebastian bei mir war und mir die Angst nahm. Nach dem anfänglich gutem Verlauf, stellte sich plötzlich der totale Stillstand ein. Nach 16 Stunden und mit der Zeit immer schmerzhafteren Wehen, ging es dann plötzlich schnell. Es wurde ein Kaiserschnitt erforderlich. Die Peridualanästhesie war so gut, dass ich alles miterleben konnte. Trotz all der Ängste, war ich froh, es bei Bewusstsein miterleben zu können. Gleich würde ich meine Tochter sehen. Sah ich nicht. Das Kind wurde, kaum dass man es aus meinem Bauch geborgen hatte, dem Kinderarzt übergeben. Der schrie nur noch „Wir fahren los. In die Kinderklinik auf Intensiv.“ Diese Sätze habe ich erst im Nachhinein begriffen. Die Gynäkologen nähten meinen Bauch wieder zu und ich wurde auf mein Zimmer gebracht. Auch in diesem Moment habe ich noch nicht alles begriffen. Sebastian hielt meine Hand und küsste mich auf die Stirn. Dann fuhr er. Und erst dann begriff ich, dass ich auf der Wochenstation allein lag. 

Es ist mittlerweile wissenschaftlich erwiesen, dass der erste Kontakt zwischen Mutter und Kind unmittelbar nach der Geburt immens wichtig ist. Das Kind wird der Mutter auf den Bauch oder an die Brust gelegt und damit der Grundstein für die gesamte folgende Beziehung zwischen Mutter und Kind gesetzt. Bei mir lag kein Kind. Auf mir lag kein Kind. An meiner Brust lag kein Kind. Ich hatte meine Tochter noch nicht einmal gesehen. Ich lag in einem weißen Krankenhauszimmer, allein, verkabelt  mit allerlei Schläuchen, müde und erschöpft.

Am folgenden Vormittag kam mich mein Chef besuchen. Er brachte einen großen Blumenstrauß und machte nette Worte. Dass kein Kind da war, bemerkte er gar nicht. Es war eine völlig surrealistische Situation.
Am Nachmittag besuchte Sebastian unsere Tochter Jette auf der Intensivstation. Er brachte gute Nachrichten mit, es ginge ihr gut. 

Zwei Tage nach der Entbindung wurde Jette in die Frauenklinik, in der ich lag, überführt. Die Augenblicke davor waren schrecklich. Wir saßen im Säuglingszimmer, zusammen mit anderen sich dort aufhaltenden Eltern, schreienden und schlafenden Säuglingen und Krankenschwestern. Ich war aufgeregt und ängstlich. Vor meiner eigenen Tochter. Ich überlegte, ob ich sie als solche erkennen und erspüren würde, oder ob man mir auch einen wildfremden Säugling bringen könnte. Man legte mir das Kind in die Arme, dass ich neun Monate unter meinem Herzen getragen hatte und das mir doch fremd war.

Jette war auf der Intensivstation mit der Flasche gefüttert worden, bis sie sich an mich und meine Brust gewöhnte, war es ein hartes Stück Arbeit.

Jette und ich hatten eine gemeinsame Zeit verloren, der wir lange hinterher rennen mussten. Mittlerweile weiß ich, dass wir sie nie richtig aufgeholt haben.

Jette verdankt ihren Namen nicht nur ihrer Ur- Großmutter als Abwandlung von deren Namens Henriette, sondern auch dem Buch „Wir, die das Leben lieben“ von Karen Aabye. Eigentlich ein Kitsch- Buch, welches im Dänemark des 19. Jahrhunderts spielt. Für mich ein Buch mit Herzenswärme und mit einer wundervollen Message: Das Leben ist liebenswert. Nicht, dass ich diese Botschaft besonders gut umgesetzt bekomme, aber sie hat mich so beeindruckt, dass sie mich dazu veranlasst hat, meine Tochter Jette zu nennen. 

Das Buch endet mit einer Rede der Protagonistin für ihre Tochter Jette an deren Hochzeitstag:

„Liebe kleine Jette! Würde Dein Vater noch leben, dann würdest Du heute von ihm all die gutgemeinten Worte hören, die Eltern an solch einem Tag nun einmal auf dem Herzen haben. Aber das Schicksal hat es anders gewollt.

Ich erinnere mich noch daran, Jette, als Du zu mir kamst und mich fragtest, ob es eine Sünde sei, wenn man froh ist. Du warst fünfzehn Jahre alt (…).

Ich weiß auch noch, dass ich lachte und dass Du mich etwas vorwurfsvoll ansahst. Aber dann antwortete ich Dir in vollem Ernst. Die Freude am Leben ist das Schönste, was die Menschen mitbekommen haben. Die Freude an den kleinen Dingen. Die Freude über einen Menschen, der sich einem anvertrauen will, die Freude über die schwankenden Zweige einer Birke, die Freude über das gute Gedeihen des Viehs und der Äcker und die Freude, einen Menschen wiederzusehen, den man vermisst hat. 

Es kann übermütig, eingebildet klingen, Jette, aber jedes mal, wenn mich das Leben fast umgeworfen hat, hat mir eine innere Stimme zugeflüstert, dass eine Freude auf mich wartet.

Kleine Jette, Du bist eigentlich gar nicht mehr klein, sondern sehr groß und selbstständig. Für mich bleibst du doch immer die kleine Jette. Von heute an wirst Du nun an Joachims Seite leben. 

Keinem wird die Sorge erspart, aber denkt daran, immer, und ich sage Euch – immer liegt etwas Freudiges vor Euch und wartet auf Euch. 

Das Leben ist eine kostbare Gabe. Uns hat das Leben nie erschrecken können. Wir haben uns ihm entgegengestreckt: lebenshungrig und -jubelnd. Und das haben wir getan, weil wir uns dem Leben verschworen haben. Wir fühlten keine Angst, weil wir einmal geduckt wurden. Wir haben ein Recht auf die Sonne, auf den Regen, auf die Fruchtbarkeit im Wald und auf dem Feld, auf den Sturm im Oktober, auf den Schnee, die Kälte, die Wärme- denn wir haben alles mit Schmerzen bezahlt. (…)

Und solltet Ihr Stürme und harte Zeiten erleben, dann denk daran, Jettekind, dass Du einer Familie angehörst, die das Leben liebt.“

Eigentlich verrückt, so stock- depressiv wie ich bin, liebe ich diese Sätze.

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