Die goldenen zwanziger Jahre
Henriette 1920 – 1930

Henriette war eine passable Schülerin, der vor allem der Geographie- und Mathematikunterricht gefielen. Im hohen Alter, als die Schritte ihr schwerer fallen und die Sehkraft nachlässt, wird sie oft in ihrem Wohnzimmer stundenlang mit einer Lupe über ihrem Atlas gebeugt sitzen und so die Welt erkunden.
Ihre Schulzeit endete mit dem Volksschulabschluss. Anschließend machte sie eine kaufmännische Ausbildung, die sie aber nicht abschloss. Sie übernahm stattdessen die Buchhaltung in der Möbelfabrik ihres Vaters.
Die erhaltenen Fotografien zeigen nun eine richtige Schönheit mit klarem, reinem Gesicht und schlanker, zierlicher Gestalt.
Auch ein Familienfoto ist erhalten. Ernst und Charlotte, nun beide fülliger, die Gesichter gealtert. Henriette mit eleganter, gewellter Frisur. Ganz so, wie es damals in Berlin Mode war. Sie trägt ein ärmelloses Kleid, wieder weiß, im Ausschnitt eine Perlenkette. Die Sitzposition elegant, die Hände gefaltet. Eine junge Frau, die im Berlin der zwanziger Jahren lebt.
Charlottes Aufmerksamkeit konzentrierte sich weiter darauf, dass Henriette eine sittsame und ordentliche junge Frau wurde, die gebildet und fein anzusehen in die Gesellschaft eingeführt werden konnte.
Deutschland übte sich in dieser Zeit erstmals in Demokratie. Die junge Republik wurde gebeutelt von den harten Reparationszahlungen, ungerecht empfundenen Gebietsverlusten und zunehmender Geldentwertung. Das Straßenbild war gezeichnet von verkrüppelten Kriegs- Heimkehrern, lebensunfähigen Kriegs- Zitterern und verarmten Bettlern. Das Volk gab der Demokratie die Schuld, die zahlreiche Umsturzversuche abwehren musste. Damals war noch nichts gold.
Erst in der zweiten Hälfte des Jahrzehntes wurde es durch die Einführung der Rentenmark, den Dawes- und Young- Plan stabiler und die Wirtschaft konnte sich leicht erholen. Auch außenpolitisch wurde es für die erste deutsche Republik ruhiger, die 1926 sogar dem Völkerbund beitrat.
Nun begann die Zeit der goldenen zwanziger Jahre. Kunst und Kultur gewannen Auftrieb, Lichtspielhäuser und Varietés schossen aus dm Boden und die Gesellschaft feierte das Leben. Nach den vielen entbehrungsreichen Jahren konnte man das Leben endlich wieder genießen. Zumindest diejenigen, die es sich leisten konnten.
Das Möbelhaus Höhler war trotz aller Schwierigkeiten gut durch die Zeit gekommen. Zumindest so gut, dass sie den Lebensstandard halten konnten. Henriette erhielt Klavier- und Ballet- Unterricht, ging zur Tanzschule und wurde zu ersten Abendgesellschaften mitgenommen.
Mit siebzehn Jahren verliebte sie sich zum ersten Mal. Ihre Eltern waren mit der Familie D. eng befreundet. Oft brachten sie ihre Kinder, Lisa und Friedrich, mit. Friedrich, genannt Fritze, arbeitete als Journalist bei der Deutschen Allgemeinen Zeitung in Berlin. Er war ein großer schlanker Mann. Seine dunklen Haare trug er mit Pomade aus der Stirn gekämmt. Seine Nase war fast etwas zu groß für sein Gesicht. Er war ein heiterer, lebensfroher Mensch, immer mit einem Lachen im Gesicht. Ganz anders seine Schwestern Lisa. Ein feingliedriges Mädchen mit ebenso feinen, blonden Locken mit einem leichten Rotschimmer. Fast feenartig. Ihr Gesicht, rein und klar, war von einer nahezu ständig vorhandenen Melancholie überschattet. Und doch konnte sie herzlich lachen. Vor allem, wenn ihr Bruder sie neckte, was er ständig tat. Dann schmiegte sich sich an ihn und für kurze Zeit strahlte ihr Gesicht. Ihr Bruder konnte die Melancholie auf ihrem Gesicht für einige Momente einfach wegwischen.
Henriettes Gefühle für Friedrich entfachten einfach dadurch, dass sie den Umgang der beiden Geschwister beobachtete. Sie war angetan, von dem liebevollem Umgang der beiden Geschwister miteinander, hatte als Einzelkind eine solche Nähe zwischen Menschen fernab von den Eltern noch nie kennengelernt. Irgendwann fing sie an, sich vorzustellen, sie schmiege sich an Friedrich nach einem seiner Scherze und er würde nicht Lisas Haare, die beim Lachen ins Gesicht gefallen waren, sondern ihre hinter ihre Ohren legen. Mit solchen Gedanken versüßte sie sich ihre Gedanken zum Einschlafen und hoffte darauf, von ihm zu träumen, was viel zu selten der Fall war.
Ein paar Mal unternahmen die drei etwas zusammen. Sie fuhren mit einem der Schiffe über den Wannsee, trafen sich zum Kaffee im Tennisclub oder gingen gemeinsam mit den Eltern abends ins Theater. Wann immer sich die Arme von Henriette und Fritze zufällig berührten, schlug Henriette das Herz bis in den Hals. Irgendwann wurden die Berührungen häufiger, die Blicke intensiver. Aber dabei blieb es auch. Doch ihre Wege sollten sich noch häufiger kreuzen.