In aller Liebe

Greta 2003 – 2005

Roman Wintersonnenwende - In aller Liebe

Es waren seltsame Zeiten, damals nach Jettes Geburt. Eine reine Achterbahn der Gefühle. 

Ich war in der Elternzeit, die ich ursprünglich viel kürzer begehen wollte. Aber die Vorstellung, mein Kind einer fremden Frau anzuvertrauen, war mir so unheimlich, dass ich die Zeit verlängerte. 

Es war ein ungewöhnlich heißer Sommer, die Sonne schien von April bis Ende September ohne Unterlass. Damals war das noch ein freudiges Ereignis nach vielen schlechten Sommern; das Wort Klimawandel war noch nicht in die Köpfe der Menschen vorgedrungen. 

Jette und ich verbrachten fast die ganze Zeit mehr oder minder nackt unter dem schattenspendenden Kirschbaum im Garten auf einer Decke. Ich war so unendlich stolz auf meine kleine süße Tochter, machte wie besessen Fotos, die ich zu hübschen Fotobüchern arrangierte. Wir saßen zusammen im Planschbecken, schmusten in der Dämmerung und entdeckten so wahnsinnig interessante Dinge wie Ameisen im Gras oder Bienen an den Blüten. 

Während sie schlief, strich ich unsere Küche neu, recherchierte über die Möglichkeit eines Sabbaticals, das ich mit meiner kleinen Familie unter einfachsten Bedingungen auf einer Alm in den Alpen verbringen wollte, nähte oder strickte Kinderkleider oder suchte im Netz nach angesagten Möbeln und anderen Dingen, die man für ein Leben mit Kleinkind braucht. 

Ich fühlte mich seit langem einmal wieder frei, obwohl ich natürlich an ihrer Seite zu Hause blieb. Aber der soziale Rückzug war noch nie mein Problem. 

Ich habe wirklich wunderschöne Erinnerungen an diese Zeit, und während ich das jetzt schreibe – übrigens wieder ein äußerst heißer Sommer, diesmal dem Klimawandel geschuldet –  laufen mir die Tränen über die Wangen und ich schmecke das Salz auf den Lippen. Immer wieder brauche ich kurze Pausen. Mein Herz so schwer!

Trotz der Leichtigkeit des Sommers litt ich unter einer ständigen Anspannung. Wie hieß es schon einmal so schön:  „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“, ein Roman von Milan Kundera. Zu schade, dass dieser wunderbare Titel schon vergeben ist. Darüber ärgerte er sich selbst übrigens in einem seiner späteren Romane. 

Jette war eine schlechte Schläferin und vor allem in den ersten Monaten ein echtes Schreikind, was sogar Sebastian belastete. Im Gegensatz zu ihm lastete ich mir die Probleme unserer Tochter an und machte mir Vorwürfe. Risse im Mutterglück, die drohten, mein kleines glückliches Haus im Inneren zu sprengen.

Natürlich gab es auch andere Familien mit Schreikindern, die in der Öffentlichkeit stolz erzählten, auf welche Ideen sie gekommen seien, um das Kind zu beruhigen. Nächtliche, kilometerlange Autofahrten, immer wieder im Kreis um den Block, Staubsaugen oder den Fön anschalten. Mit solchen Geschichten hatte man sogar die Lacher auf seiner Seite. Aber so tickte ich eben nicht. 

Ich habe eine Szene im Kopf, von der ich nicht einmal weiß, ob sie sich wirklich so ereignet hat. Jette steht in ihrem kleinen Kinderbett und schreit. Dazu stampft sie mit ihren kleinen Beinchen auf. Tränen laufen über ihr Gesicht. Sie schreit nach mir, die unweit von ihr auf dem Boden sitzt und nicht reagiert. Ich halte die Arme über den Kopf verschränkt und versuche meine Ohren vor den Schreien zu verschließen. 

Eine Szene, die für mich bezeichnend ist. Ich liebe meine Tochter, fühle mich aber unfähig, Nähe zu ihr aufzubauen. Genauso, wie ich unfähig bin, Bindungen aufrecht halten. Ich habe weder Vertrauen zu mir noch zu anderen. 

Wie kann ich selbst Ur- Vertrauen weitergeben, wenn ich selbst keines habe. Wann gibt ein kleines Mädchen auf, verstummt und gräbt den Kummer in sich ein?

Vor der müden und quengeligen Jette hatte ich Angst. Sie überforderte mich. Sie forderte all meine Aufmerksamkeit,  bis ich das Gefühl hatte, sie nahm mir meine eigene Identität. 

Auch für meine Eltern wurde ich immer unwichtiger. Sie erkundigten sich nicht mehr nach mir – es ging nur noch um Jette. 

Hinzu kam, dass ich mich immer mehr von Sebastian distanzierte. Schon allein aus Eifersucht und Neid, dass ihm der Umgang mit Jette so spielerisch gelang. Er brachte sie zum Lachen, eine Fähigkeit, die ich mir völlig absprach. Und dass ein Säugling eine (sexuelle) Beziehung zwischen Partner belastet, ist wohl allgemein bekannt. 

Meine Mutter muss diesen Konflikt, den vermutlich viele Mütter durchmachen, gelöst haben, indem sie all ihre Wünsche und Ziele auf mich projizierte. Nicht mehr sie musste perfekt sein oder im Rampenlicht stehen, sondern ich. Ich wurde benäht und ausstaffiert wie ein Püppchen (alle Kleider, die ich Jette jemals genäht habe, riss sie sich unverzüglich vom Leibe), ich wurde beim Ballettunterricht angemeldet und erhielt einen Klavierlehrer. Maßnahmen, die meine Großmutter Henriette voll unterstützte. Möglicherweise trieb sie meine Mutter sogar dazu an. Schließich hatte meine Großmutter eine Kindheit in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts im mondänen Berlin erlebt, als es wichtig war, eine reizende junge Frau für die Gesellschaft zu erziehen. Ich hatte in meiner Kindheit und Schulzeit mehr tägliche Termine als es heute der Fall ist. Und natürlich wurde auch verlangt, dass ich eine gute Schülerin war. Heute kann ich mir allerdings sehr gut vorstellen, wie unangenehm es für meine Mutter gewesen sein muss, in der einzigen Metzgerei unserer Kleinstadt einkaufen gehen zu müssen. Die Tochter, Cordula Stielike, war die Klassenbeste und saß in der Schule nehmen mir. Sie roch immer nach frischen Wurstwaren, was regelmäßig Übelkeit bei mir erzeugte. Heimlich suchte ich immer ihren Polyester- Pulli nach Resten von Fleisch oder Schweineblut ab.
Die erste Frage, die meiner Mutter entgegen gefeuert wurde, wenn sie die Fleischerei betrat, lautete: „Na, was hat denn Greta in der Klassenarbeit geschrieben?“ Dabei hatte die alte Striehlke bestimmt schon längst gewusst, dass Cordula einmal wieder die beste Note geschrieben hatte. 
Der alte Strielke war einmal beim Zerlegen eines aufgehängten Schweins mit dem Messer abgerutscht und hat es sich in den Bauch gerammt. Auf diese Weise hätte er sich fast selbst zerlegt.

Als Jette 2 Jahre alt war, begann ich wieder zu arbeiten. Auch wenn mir dadurch ein Stück meiner eigenen Identität  zurückgegeben wurde, so gingen mir der ewige Zeitdruck und die Doppelbelastung unablässig an die Substanz. Sowohl im Beruf als auch in der Mutterrolle hatte ich das Gefühl, nicht zu genügen. Meine Versagensgefühle wuchsen zu unbezwingbaren Bergen, vor denen ich noch heute stehe. 

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